Mobilität der Ferngesellschaft und Verkehrsinfrastrukur

Die Mobilität der Ferngesellschaft wie überhaupt die beschleunigte Mobilität zwischen Orten und die Verkehrsinfrastruktur, die sie ermöglicht, entscheiden nicht zuletzt über individuelle Freiheitsgrade und Lebensqualität. Wo Mobilitätsansprüche, Verkehrsinfrastruktur und Siedlungsentwicklung nicht aufeinander abgestimmt sind, wachsen die Preisgebirge bei Immobilien – ob Mieten oder Kaufpreise – zwischen Innenstädten und der so genannten Peripherie immer weiter in die Höhe.

Den Preis im Wortsinne zahlen alle Beteiligten – zu ihrem Nachteil: Die Innenstädte können den Zuzug kaum noch verkraften und suchen bislang vergeblich nach tragfähigen Lösungen. Die Verkehrsinfrastruktur ist überlastet, weil immer mehr Menschen am Preisgebirge abrutschen und bezahlbaren Wohnraum außerhalb der Zentren suchen und deshalb pendeln müssen. Und die Kommunikationsinfrastruktur ist nicht einmal im Ansatz gerüstet, um den Anforderungen einer zunehmend digitalisierte Wirtschaft außerhalb der Zentren zu genügen.

Die Mobilität der Ferngesellschaft, Verkehrsinfrastruktur und Digitalisierung: Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung müssen in diesen Kontext besser abgestimmt und in einer konzertierten Aktion entwickelt werden. Dazu gehört auch der Ausbau der Kommunikationsnetze: Wer die lebenswerte “Peripherie” attraktiv machen will zum Leben und Arbeiten, muss die Netze ausbauen und 5G bis an die letzte Milchkanne bringen. Das entlastet die Innenstädte langfristig besser als jedes Nachverdichtungsprogramm, reduziert den Verkehr und erhöht die Lebensqualität.

Dieser Essay über die Mobilität der Ferngesellschaft, Verkehrsinfrastruktur und Siedlungsentwicklung ist eine leicht überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrages “Hessen mobilitätsgerecht” im Buch “Stadt Land Zukunft – Wie wollen wir 2040 in Hessen leben?”, das die Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen (AKH) im Januar 2019 herausgegeben hat. Der Buchbeitrag ist in Zusammenarbeit mit HOLM-Geschäftsführer Michael Kadow entstanden.

„Stadt Land Fluss – Wie wollen wir 2040 in Hessen leben?“, hrsg v. Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen (AKH), Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-00-061693-8

Mobilität, Verkehrsinfrastruktur, Siedlungsentwicklung, Verkehr, Hessen, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, AKH, Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen Zunehmender internationaler Waren- und Informationsaustausch, fortschreitende Arbeitsteilung, veränderte Lebensentwürfe bei wachsendem Wohlstand und Herausforderungen des Klimawandels werden unsere Mobilität verändern und die Verkehrsinfrastruktur nicht nur in Hessen transformieren. Verkehrsdienstleister werden künftig auf differenziertere Mobilitätsbedürfnisse und komplexere Bewegungsmuster der Pendler und Reisenden reagieren: Die „Mobilität der Ferngesellschaft“ und die „beschleunigte Mobilität zwischen Orten“, von der Peter Weibel vom Zentrum Kunst und Medientechnologie spricht, erfordern deshalb neue Denkweisen für die Vernetzung physischer Infrastrukturen, leistungsfähigerer digitaler Netze und Konzepten der Stadt- und Verkehrsplanung. Energie- und Verkehrssektor werden eng gekoppelt und weitgehend CO2-frei sein. Einen wichtigen Schlüssel für die vernetzte Mobilität der Zukunft liefert die Digitalisierung: Die Miniaturisierung der Geräte und der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) werden den Verkehrssektor revolutionieren und Serviceleistungen von bislang nicht gekanntem Umfang und Qualität ermöglichen.

Wir stehen heute vor Herausforderungen, die auf bemerkenswerte Weise denen ähneln, die vor gut 100 Jahren Politik und Gesellschaft gleichermaßen bewegt haben: Mit welchen Mitteln können wir Bevölkerungszunahme und Verkehrswachstum ermöglichen und managen? Damals, zu Beginn der Blütezeit des modernen Städtebaus in Deutschland, lautete die Antwort, Gartenstädte im Umfeld der Zentren zu errichten, Stadt, Natur und Umland zu verbinden und Schnellbahnsysteme aufzubauen.

Mobilität der Ferngesellschaft: Schnellbahnsysteme verbinden Stadt, Natur und Umland

Dieses Konzept bildet noch immer eine tragfähige Basis, wenngleich Kernstadt und Region heute im Zuge der Globalisierung größere Ausdehnungen haben und die Anforderungen vielfältiger sind: Angesichts knappen öffentlichen Raumes gerade in Ballungsräumen wird der schienengebundene Personen(nah)verkehr auch für die Zukunft das Rückgrat des vernetzten, digitalisierten Verkehrssystems bilden. Kein Verkehrsträger kann pro Einheit und Zeit so viele Menschen effizient und emissionsfrei befördern. Im Unterschied zur Vergangenheit werden Haltepunkte im System aber zu Mobilitätshubs entwickelt werden, wo Reisende für die letzte Meile auf das elektrisch angetriebene, autonom fahrende Mietauto oder auf das E-Bike umsteigen. Starre Linienführung der Schieneninfrastruktur und der offene und dynamische Betrieb straßengebundener Verkehrsträger werden kombiniert und gleichen wechselseitig systembedingte Nachteile aus.

Aus ehemals konkurrierenden Verkehrsträgern entsteht ein komplexes, von Fahrtziel und -zweck abhängiges System. Die Vernetzung der Verkehrsmittel, ihre Bereitstellung und die Abrechnung der Fahrten wird KI-basierte Software übernehmen, die im Hintergrund die gewünschte Fahrt prognostiziert und plant, die jeweiligen Verkehrsmittel – abhängig vom Verkehrsaufkommen – bucht und dem Reisenden die notwendigen Informationen im Echtzeit auf einem Endgerät bereitstellt, das dann womöglich Teil unserer Kleidung sein wird. Die eigene Verkehrsmittelwahl mit ihren Schwierigkeiten, die Beschäftigung mit Fahrplänen und die Frage, welche Tickets benötigt werden, entfallen. Damit wird die bislang größte Hürde für die kombinierte Nutzung verschiedener Verkehrsmittel beiseite geräumt.

Monozentrale Raumstrukturen transformieren sich zu differenzierten, polyzentralen Strukturen

Was für Ballungsräume gelten wird, wird nicht weniger Bedeutung für ländliche Räume haben: Autonom fahrende Kleinbusflotten, die fahrerlos unterwegs sind und nach dem Prinzip des Ruftaxis rund um die Uhr geordert werden können, befriedigen Mobilitätsbedürfnisse in nicht gekannter Weise. Die „räumliche Polarisierung“, von der die Raumplanerin Antje Matern spricht, wird entschärft, in Teilen sogar aufgehoben werden. Der räumliche Widerstand sinkt, Stadt und Region rücken näher zusammen und bislang benachteiligte Räume werden aufgewertet und attraktiver. Damit ändern sich auch die Kriterien für die Standortwahl: Monozentrale Raumstrukturen transformieren sich zunehmend zu differenzierten, polyzentralen Strukturen. Der Siedlungsdruck könnte sinken und die Preisgebirge für Immobilien zwischen Zentrum und Peripherie flacher werden.

Die Qualität der Mobilitätsdienstleistungen und ihrer Software (Digitalisierung), die in der virtuellen Welt unsere Bewegungen in der physischen Welt berechnet und bereitstellt, bietet zugleich die Chance, die Infrastruktur des Verkehrs, die Gebäude und Straßen, zu transformieren. Die Zahl der Autos im Privatbesitz wird drastisch sinken, weil Mobilitätsbedürfnisse zu jeder Zeit und überall befriedigt werden können. Verkehrsräume werden dann nicht mehr bloß „Funktionskanäle zur Abwicklung technischer Vorgänge“, von denen der Architekt Meinhard von Gerkan spricht, sondern Lebens- und Erlebnisräume, die dem Langsamverkehr, Fußgängern und Radfahrern, wieder zurückgegeben werden.

Die Transformation der Arbeitswelt und die des Verkehrssystems sind zwei Seiten einer Medaille: Projektorientierte, zeitlich befristete Tätigkeiten lösen die lebenslange Beschäftigung bei einem Arbeitgeber an einem Ort ab, Mobilitätshubs wie Flughäfen, Bahnhöfe und wichtige Knotenpunkte im Verkehrssystems wandeln sich zu Airport Cities, zu temporären Konferenzorten und Einkaufs- und Erlebniszonen.

Verkehrs- und Stadtplanung müssen die Transformation gemeinsam gestalten

Verkehrs- und Stadtplanung, Ingenieure, Architekten und Soziologen werden diese Transformation gemeinsam gestalten müssen. Denn „so wenig wie Bahnhöfe und Flughäfen nicht nur einfache Abfertigungsanlagen sind, sondern vor allem Teile unserer Umwelt, die Anspruch auf Gestaltung als Lebensraum haben, so sehr gilt das auch für Straßen, Brücken und Tunnelanlagen“, betont von Gerkan. Hohe Funktionalität mit ästhetischem Anspruch zu verbinden, setzt die Verkehrsinfrastruktur in Wert, erhöht die Akzeptanz in der Gesellschaft und schafft Bewusstsein für die Qualität von Bewegung. Davon wird entscheidend abhängen, ob die Gesellschaft bereit ist, den weiteren Aus- und Neubau Infrastruktur zu tolerieren und womöglich sogar im Eigeninteresse zu fördern.

Die Anforderungen einer Gesellschaft, die mobiler sein wird denn je, erfordern den Ausbau vor allem der Schieneninfrastruktur, die Entwicklung multimodaler Hubs mit städtischen Qualitäten und des Energiesystems. Das Ziel, Lkw, Busse und Autos emissionsfrei zu betreiben und die enorm wachsende digitale Infrastruktur mit Elektrizität zu versorgen, stellt uns vor besondere Herausforderungen, auf die wir noch nicht ausreichend vorbereitet sind.

Lösungen von hoher Qualität zu erarbeiten, wie sie im Grundsatz vor gut 100 Jahren schon einmal entwickelt worden sind, ist den Schweiß der Edlen wert, denn „Städte sind nicht nur eine Ansammlung von Menschen, Häusern und Infrastruktur, sondern konstituieren sich als Ergebnis fragiler, komplexer und vor allem sich ständig verändernder sozialer, ökonomischer und kultureller Prozesse“, schreibt der Stadtplaner Ulrich Hatzfeld. Vor allem bilden Städte auch in Zukunft den Raum, in dem wir leben und arbeiten werden. Eine vernetztes Mobilitätsangebot ist dafür die notwendige Voraussetzung.

 

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