Paris als Vorbild: Der Zukunftsforscher Dr. Stefan Carsten fordert im Interview mit dem Verkehrskontor FrankfurtRheinMain eine Hinwendung zu einer wissensbasierten Wirtschaft, die den Wunsch nach einer besseren Lebens- und Aufenthaltsqualität erfüllt. Das bedeutet aber auch, eine neue Mobilitätskultur zu entwickeln.
Carsten ist gelernter Stadtgeograf. Er hat Geographie, Betriebswirtschaftslehre und Kartographie in Berlin und Waterloo (Kanada) studiert und war von 1997-2013 Projektleiter der Zukunfts- und Umfeldforschung der Daimler AG in Berlin, von 2007-2014 Gastprofessor an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Seit 2014 ist der Zukunftsforscher selbständig und arbeitet in den Bereichen Forschung, Beratung und Lehre. Er ist seit 2021 außerdem Mitglied des Expertenbeirats des Bundesverkehrsministeriums zur ÖPNV-Strategie 2030+.
Er weist in seinen Vorträgen immer wieder auf beispielhafte Entwicklungen und Projekte hin und schaut kritisch auf die Verkehrspolitik der Gegenwart. Das Verkehrskontor hat mit Stefan Carsten über den Stand der Verkehrswende gesprochen und ihn um einen Ausblick gebeten, wohin die Reise gehen sollte.
Herr Dr. Carsten, warum stockt die Verkehrswende, oder haben wir bereits den Rückwärtsgang eingelegt?
Carsten: Die Verkehrswende geht in den Städten voran, jedoch nur sehr langsam. Im ländlichen Raum gibt es einige wenige positive Beispiele, in der Fläche jedoch erleben wir hier absoluten Stillstand. Warum? Weil zentrale Rahmenbedingungen wie Investitionen in Infrastruktur, mutige politische Entscheidungen auf Bundes- und kommunaler Ebene und eine konsistente Förderung von nachhaltigen Mobilitätsformen fehlen!
Die Krise der Automobilindustrie behindert Investitionen in zukunftsfähige Wirtschafts- und Mobilitätsstrukturen, stattdessen wird eine ideologische Verkehrspolitik zu Gunsten des Autos gefordert. Es ist beschämend zu sehen, wie die Politik Angst vor den Wählern hat und die Automobilindustrie sich jeglichen Innovationen verschließt und sogar der ÖPNV froh ist, wenn überhaupt noch Busse und Bahnen fahren.
Trotzdem zeigen die Daten eindrucksvoll, dass zum Beispiel in Hamburg und Berlin die Verkehrswende voranschreitet, weil die Stadtgesellschaft genug von Staus, Unfällen und Dreck hat und stattdessen lieber Fahrrad, Scooter oder die U-Bahn nutzt. Hier ist das Auto nur noch Back-up.
In welchem Maße ist die Kommunikation der Verkehrswende gescheitert?
Die Kommunikation hat zu oft auf Verbote und Verzicht gesetzt, anstatt die Chancen und den Mehrwert nachhaltiger Mobilität zu betonen. Menschen fühlen sich nicht mitgenommen, weil die Narrative häufig technokratisch statt inspirierend sind. Die Mobilitätswende außerhalb Deutschlands zeigt, dass die Mobilitätswende auch eine Wirtschaftswende ist, bzw. dieser folgt.
Deutschland jedoch hängt noch immer in den Fallstricken einer Industriepolitik, die nicht mehr zu gewinnen ist. Deswegen muss Paris ein Vorbild in diesem Sinne sein: Abkehr von einer strauchelnden Automobilindustrie, ja, auch Paris und Frankreich waren mal eine Automobilnation. Wir brauchen eine Hinwendung zu einer wissensbasierten Wirtschaft, die den Wunsch nach einer besseren Lebens- und Aufenthaltsqualität erfüllt. Damit verbunden ist auch eine neue Mobilitätskultur.
Was müssen wir besser machen?
Bevor wir über Verbote sprechen, braucht es neue Mobilitätsangebote in Stadt und Land. Die Verfügbarkeit und die Auswahl von Angeboten ist die Voraussetzung für eine Verkehrswende, auch das haben viele Akteure, auch ÖPNV-Akteure, noch nicht verstanden. Es gibt genügend Parkplätze in Stadt und Land, die in diesem Sinne umgewidmet werden können: für Handwerker, für private Nutzerinnen und Nutzer und für Sharing- und Fahrrad-Strukturen.
Und natürlich benötigt der knappe und wertvolle Raum eine flexible Bepreisung, die mit Parkplatzautomaten nicht zu realisieren ist. Diese Maßnahmen benötigen Investitionen, die sich in der Regel nach einigen Jahren selbst tragen. Diese Lücke muss durch politische Institutionen und/oder die Wirtschaft finanziert werden. Mittelfristig profitieren aber alle gesellschaftlichen Gruppen von diesen Förderungen.
Welche Themen müssen wir unter diesen veränderten Bedingungen forcieren?
Das sind die Top-5 Themen für mich: Förderung und Umsetzung von autonomen Technologien, die nachhaltiger, kostengünstiger, sicherer und effizienter sind als der Mensch als Fahrer oder Lenker. Multimodalität und Multifunktionalität als Standard der Verkehrsplanung: Menschen müssen nahtlos zwischen Verkehrsmitteln wechseln können (Fahrrad-ÖV; Sharing-ÖV, Auto-ÖV) und sie brauchen Angebote, die das Umsteigen attraktiv machen. Betonierte Parkplatzfelder ohne Infrastruktur gehören nicht dazu.
Wir müssen sichere Infrastruktur für aktive Mobilität wie Radfahren und zu Fuß gehen in der Stadt und auf dem Land schaffen. Das Reallabor Radbahn in Berlin hat demonstriert, wie selbst in dichten Nachbarschaften, neue aktive Räume entstehen können. Wir müssen Elektromobilität und Wasserstoff im Schwerlastverkehr stärker fördern.
Welche Bedeutung hat der ÖPNV für die Verkehrswende?
Der ÖPNV ist das Rückgrat der Verkehrswende. Er bietet skalierbare Lösungen für Städte und ländliche Räume, reduziert Emissionen und schafft Zugang zu Mobilität für alle. Das ist der Standardsatz, der auf jeder Konferenz verkündet wird. Nur leider tun die Akteure viel zu wenig für diesen Anspruch.
Welcher Akteur geht denn selbst ins Risiko, um Investitionen in die Zukunft zu sichern? Wer stellt das absurde Förder- und Verbundsystem in Frage, dass vor allem Kosten generiert aber kaum noch im Sinne der Verkehrswende funktioniert? Wer konzipiert fahrerlose U-Bahnsysteme für eine effizientere Beförderung der Massen in Zeiten von Fahrermangel?
Wer schafft teure Fahrkartenautomaten ab, um den Anspruch des Zugangs zu Mobilität endlich einzulösen? Und wer integriert schließlich neue On-Demand-Systeme im ländlichen Raum, um auch hier die Verkehrswende zu realisieren.
Wo können wir den größten Mehrwert aus der Digitalisierung abschöpfen?
Die größte Chance liegt in On-Demand-Verkehren, die den ÖPNV flexibel ergänzen. Mit digitalen Plattformen können wir eine nahtlose Vernetzung von Bussen, Bahnen, Fahrrädern und Sharing-Diensten ermöglichen. Ich nenne drei Beispiele, die zeigen, was heute bereits möglich ist:
Die SBB in der Schweiz stellt mit SBB Mobile eine App zur Verfügung, die nahtlose Tür-zu-Tür-Reisen ermöglicht und alle Verkehrsträger – von Zügen bis zu On-Demand-Taxis – integriert. Nutzer können die gesamte Reise mit einem einzigen Ticket planen und bezahlen. Gleichzeitig bietet die App dynamische Preisanpassungen, um die Nachfrage effizient zu steuern.
Die Leipziger Verkehrsbetriebe haben eine Plattform entwickelt, die nicht nur klassischen ÖPNV, sondern auch Carsharing und Fahrräder integriert. Das System ist Teil einer größeren Smart-City-Strategie. Der „Leipzig MOVE“-Service bündelt alle Mobilitätsangebote in einer App.
In New York kann ich mit OMNY ein kontaktloses Fahrpreiszahlungssystem nutzen, das es Fahrgästen ermöglicht, ihre Fahrpreise mit kontaktlosen Kredit-/Debitkarten, digitalen Geldbörsen (wie Apple Pay, Google Pay und Samsung Pay) und anderen kontaktlosen Zahlungsmethoden zu bezahlen. Als Nutzer muss ich mich nicht registrieren, weil das System automatisch erkennt, wieviel Fahrten mit welcher Karte bereits durchgeführt wurden. So wird immer der Best Price ermittelt.
Wie können oder sollten wir den ÖPNV künftig auf Dauer finanzieren?
Ein Mix aus öffentlichen Mitteln, Nutzerbeiträgen und kreativen Finanzierungsmodellen wie Mobilitätsfonds oder einer CO₂-Abgabe ist nötig. Langfristig könnte ein kostenloser ÖPNV eine Vision sein, wenn durch Emissionseinsparungen und gesellschaftliche Effekte Kosten eingespart werden, während gleichzeitig die Steuereinnahmen steigen, weil der Standort Deutschland endlich wieder innovative Angebote zur Verfügung stellt.