Das Ziel ist ehrgeizig: Bis 2030 sollen in der EU 50 Millionen Menschen mehr auf dem Fahrrad unterwegs sein und das Velo nutzen, um zur Arbeit zu fahren oder einzukaufen. Häufiger aufs Zweirad steigen für alltägliche Wege, für die wir noch allzu häufig das Auto nutzen, ist einer der Schlüssel für eine erfolgreiche Verkehrswende. Noch immer ist die Hälfte aller mit dem Pkw zurückgelegten Wege hierzulande kürzer als fünf km, etwa ein Drittel sogar kürzer als drei km – Distanzen, die sich leicht mir Fahrrad zurücklegen lassen.
Wie dieses Ziel zu erreichen ist, das mit der Europäischen Radverkehrserklärung („EU institutions commit to boost cycling across Europe„) Anfang April gesetzt worden ist, darüber haben sich Teilnehmer*innen mehrerer Podien auf der diesjährigen Eurobike in Frankfurt am Main Gedanken gemacht. Der Hinweis auf die verheerenden Folgen des Klimawandels motiviert jedenfalls niemanden, vom Auto aufs Rad umzusteigen, darüber herrscht Einigkeit auf der internationalen Leitmesse für die Fahrradbranche. Aber wenn die Rahmenbedingungen stimmen, der unmittelbare Nutzen im doppelten Wortsinne erfahrbar wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen für ihre alltäglichen Wege das Lenkrad links liegen lassen und aufs Velo steigen.
Matthias Riegel, Geschäftsführer der Berliner Beratungsgesellschaft toechter&toechter, erläutert das am Beispiel einer Krankenschwester, die mit dem Rad ins neun km entfernte Krankenhaus zur Arbeit fährt. Warum tut sie das? Weil es am Krankenhaus keine Parkplätze gibt, ein Fahrradweg Wohn- und Arbeitsort verbindet und die Spritpreise hoch sind.
Das Beispiel zeigt: Wenn die Verkehrsinfrastruktur vorhanden ist und ökonomisch die Vorteile erkennbar sind, braucht es weder große Kampagnen noch den zwar richtigen und wichtigen, aber für die individuelle Entscheidung leider irrelevanten Hinweis auf den Klimawandel.
Wie wichtig eine attraktive und sichere Infrastruktur ist, betont auch Jutta Maier, die für den Tagesspiegel Background Verkehr & Smart Mobility in Berlin arbeitet. Stimmt das Angebot, wächst der Anteil des Radverkehrs am gesamten Verkehrssaufkommen, wie die Beispiele Niederlande und Dänemark zeigen. Wo sich Menschen sicher fühlen, steigen sie aufs Rad. Hierzulande fühlen sich aber noch 72% unsicher im Radverkehr.
Verändert werden müssen aber auch die Rahmenbedingungen. Autofahren unattraktiver, den Parkraum knapper machen und die Fläche bewirtschaften, zählt zu den Maßnahmen, um die Transformation hin zu einem weniger umweltwirksamen Verkehr zu ermöglichen – sagt Kersten Heineke, Co-Leiter des Center for Future Mobility bei McKinsey&Company. Und tatsächlich kommt Bewegung in deutschen Kommunen auf. Etwa in Berlin, wo Autofahrer*innen ihren Pkw zum Teil noch kostenlos im öffentlichen Raum abstellen dürfen, hat der Senat kürzlich beschlossen, fürs Anwohnerparken 60 € zu verlangen, sagt Maier.
In Trier und Ulm verlangen die Städte 200 € im Jahr von ihrern autofahrenden Bürger*innen, in Ländern, wo der Radverkehr populärer ist, müssen zwischen 500€ und 800€ fürs Parken im Jahr auf den Tisch gelegt werden.
Wer diese Transformation beschleunigen will – das Thema der Eurobike 2024 – sollte womöglich das Rad vom Sockel holen und das Velo als Teil einer „neuen Normalität“ präsentieren, sagt Dr. Nadja Parpart, Bereichsleiterin Marketing bei der JobRad GmbH. Die Inszenierung des Fahrrades als besonderes Freizeit- oder Sportgerät stimuliert Befürchtungen, man wolle einem das Auto wegnehmen. Solche Abwehrreaktionen „verhindern, dass das Fahrrad in der Mitte der Gesellschaft ankommt“. Das Rad als Problemlösung für den Alltag darzustellen, das sei die Aufgabe, sagt Parpart.
Bislang wird das Fahrrad gesellschaftspolitisch aber nicht ausreichend ernstgenommen, obwohl außer Frage steht, dass wir eine andere Form der Mobilität brauchen – auch darüber herrscht in der Szene Einigkeit. Erneut ist in jüngster Zeit und auf der Eurobike der Ruf nach neuen Narrativen für diese Mobilität zu hören, weil der Traum von der Freiheit mit dem Auto verbunden wird, aber nicht mit dem Fahrrad – was sicherlich auch mit dutzenden Werbemillionen der Autoindustrie zusammenhängen mag.
Notwendig ist aber auch eine größere Unterstützung durch die Politik. Obwohl es in Deutschland mehr Fahrräder als Menschen gibt und die positiven Effekte des Radfahrens seit Jahren immer wieder benannt werden, hat kein hochrangiger Politiker den Weg zur internationalen Leitmesse der Fahrradbranche in diesem Jahr gefunden. Dabei ist die europäische Fahrradindustrie weltweit innovativ und führend und ein wichtiger und wachsender Wirtschaftszweig der Wirtschaft, wie es in der Europäischen Radverkehrserklärung heißt. Die Fahrradbranche repräsentiert mehr als 1000 kleine und mittlere Unternehmen, bietet eine Million Arbeitsplätze und hat ein Potenzial für viele weitere Arbeitsplätze.
Dass es trotz manch strategischer Unzulänglichkeit und einer noch mangelhaften Professionalisierung der Branche, auf die McKinsey-Mann Heineke hinweist, dennoch gelingen kann, die Transformation zu beschleunigen, zeigt unter vielen Beispielen auch die Stadt Frankfurt. Im Fahrradklimatest des ADFC belegt die Stadt inzwischen Platz zwei. Verkehrsdezernent Wolfgang Siefert (Grüne) spricht von einer großen Zufriedenheit mit der Fahrradmobilität in der Stadt. Der beschleunigte Wandel ist in Frankfurt vor allem durch den erfolgreichen Radentscheid ausgelöst worden, der u.a. zur – teilweise umstrittenen – Umwidmung des Oeder Wegs in eine Fahrradstraße geführt hat.
Siefert zieht auf der Eurobike eine positive Bilanz des Projektes: Die Zahl der Radfahrer*innen habe sich verdoppelt, der Autoverkehr sei um 50% zurückgegangen.
Transformation braucht Zeit, zumal in einer vom Auto dominierten Gesellschaft, und sie sollte nicht mit der Brechstange erfolgen, sagt Cornelius Kiermasch von Deutsche Bahn Connect. Angebots schaffen, die für die Multimodalität wichtig sind, empfiehlt Dr. Franziska Wouters, Senior Managerin Innovation am House of Logistics and Mobility (HOLM). Vor allem brauche es mehr Angbote für Pendler, weshalb die Stadt enger mit Unternehmen zusammenarbeiten sollte.
Auch auf diesem Panel sind sich die Diskutanten einig: Nachhaltigkeit interessiert immer weniger, „Menschen mit dem Hinweis auf den Klimawandel zu überzeugen, wirkt immer weniger“, sagt Verkehrsdezernent Siefert.
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