Die Frage der Klimaneutralität des Verkehrssektors und die Zukunft der Mobilität waren keine Fragen, die den Nobelpreisträger Paul Crutzen im Laufe seines an Erfahrungen und Erkenntnissen reichen Lebens je in erster Linie beschäftigt haben. Und doch hat Crutzen, von dem gesagt wird, er habe den ersten „Umwelt“-Nobelpreis verliehen bekommen, einen wesentlichen Beitrag geleistet, als er auf den Zusammenhang von emittierten Stickoxiden und Fluorkohlenwasserstoffen und den Abbau von Ozon in der Stratosphäre hingewiesen hat. Ende Januar der „Jahrhundertmensch“ (Klaus Töpfer) Paul Crutzen gestorben.
Die gewonnenen Erkenntnisse waren doppelter Natur: Sie geben Einblicke in die seinerzeit noch wenig erforschte Atmosphärenchemie in Stratos- und Troposphäre und haben später, ergänzt durch Erkenntnisse über die Wirkung von Chlor und Brom, die Basis dafür gelegt, dass wir einer Katastrophe nur knapp entgangen sind.
Zu diesen Erkenntnissen zählt etwa der Einblick in die Wirkung von Stickoxiden auf die Atmosphäre. Rund die Hälfte der Stickoxide wird in der Landwirtschaft emittiert, die andere Hälfte im Verkehrssektor. Dass die Abgase hochfliegender Verkehrsflugzeuge erheblich zum Abbau der uns vor UV-Strahlung schützenden Ozonschichte beitragen können, ist eine andere, kaum weniger wichtige Erkenntnis – weshalb Crutzen auf den zweiten Blick einen erheblichen Beitrag für den Verkehrssektor geleistet hat.
Ozonschicht und Stratosphären-Flugzeuge
Crutzen, der lange Jahre in Mainz geforscht und gelehrt hat, hat seine alarmierenden Erkenntnisse dem damaligen Umweltminister Klaus Töpfer in seiner Privatwohnung vermittelt. Töpfer, hellwach, bei klarem Verstand und entschlossen in der Sache, hat damals auf Grundlage dieser Erkenntnisse und gegen den Protest der Industrie das Verbot von Fluorkohlenwasserstoffen eingeleitet, jener Stoffe also, die als Treibmittel genutzt worden sind.
Im anderen Fall waren es wirtschaftliche Erwägungen der Luftfahrtbranche, die verhindert haben, dass die Ozonschicht im globalen Maßstab abgebaut worden ist. Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte die Luftfahrtbranche den Bau einer großen Flotte von SST-Überschallflugzeugen für den supersonic stratospheric transport geplant. Wären die Flugzeuge an den Start gegangen und in der Stratosphäre unterwegs gewesen, wäre der Abbau der Ozonschutzschicht kaum noch zu verhindern gewesen.
Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang
Als Mitautor des Buches „Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang“ hat Crutzen 2011 über die Wirkung toxischer Stoffe in der Atmosphäre geschrieben: „Viele toxische Substanzen gerieten in die Umwelt, dazu kommen Substanzen, die an sich nicht giftig sind, die aber dennoch schwerwiegende Schäden verursachen können – man denke an die Fluorkohlenwasserstoffe, die das Ozonloch über der Antarktis verursacht haben … Es hätte wesentlich schlimmer kommen können: die das Ozon zerstörende Eigenschaft der Halogene werden überhaupt erst seit den 1970er Jahren erforscht. Hätte sich herausgestellt, dass Chlor sich chemisch ähnlich verhält wie Brom, wäre das Ozonloch heute ein weltweites und ganzjähriges Phänomen, keine auf den antarktischen Frühling begrenzte Erscheinung. Es ist eher dem Glück als unserem Wissen zu verdanken, dass diese katastrophale Situation nicht eingetreten ist.“
Risiken des Nicht-Wissens
Klaus Töpfer hat Paul Crutzen zu recht einen Jahrhundertmenschen genannt. Der Nobelpreisträger hat das Anthropozän als Begriff für ein Zeitalter, in der der Mensch eine Kraft geologischen Ausmaßes entwickelt hat, zwar nicht geprägt, aber zur rechten Zeit populär gemacht. Crutzen hatte einen umfassenden Blick für die Welt und die Wissenschaft, und wer wollte, konnte sich durch seine Beiträge und Reden sensibilisieren lassen für die Gefahren und potenziellen Folgen des Nicht-Wissens in einer Welt, die einen auf technische Entwicklung reduzierten Fortschrittsbegriff pflegt und noch immer weitgehend unreflektiert jede technische Innovation bejubelt, ohne die Konsequenzen zu bedenken.
In der Falle des Präventionsparadoxes
Crutzens Erkenntnis und Töpfers Entschlusskraft, über FCKW hinaus etwa den SO2-Gehalt in der Atmosphäre zu verringern, haben dazu beigetragen, dass das Waldsterben in Deutschland nie katastrophale Ausmaße angenommen hat. Dass heute so genannte Zukunftsforscher wie Matthias Horx oder Journalisten wie Wolf Lotter (BrandEins) oder Wolfram Weimar die Gefahr des Waldsterbens bestreiten, fällt in den Bereich des Treppenwitzes der Wissenschaft. Sie sind, als Opfer des Präventionsparadoxes, selbstverschuldet in den Status der Unmündigkeit getreten, weshalb sie der Lebensleistung von Crutzen und Töpfer hohnsprechen.
Ich habe viel gelernt von einem Mann, den ich nie habe kennenlernen dürfen. Paul Crutzen ist Ende Januar gestorben.
Michael Müller: In Erinnerung an Paul J. Crutzen:
Jürgen Schultheis: Kommentar zu einem Beitrag von Hannah Helmke