Mobilität der Zukunft erfordert, über Verkehrs- und Energiewende, über Große Transformation und Klimaneutralität, über soziale Frage und Gerechtigkeit systemisch und universalistisch nachzudenken. Systemisch, weil das Ganze das Wahre ist, und jede noch so gut begründbare und sinnvolle Partikularmaßnahme in ihrer Singularität nicht zum großen Ziel führen wird, weil ihr die Einbettung ins Ganze fehlt. Universalistisch, weil Verkehrs- und Energiewende als Teilschritt hin zur Großen Transformation und zur Klimaneutralität ALLE Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Glauben und sozialer Lage erfassen und berücksichtigen muss.
Titelbild-Ausschnitt: Tony Cragg, Points of View (Bild: Von Gerardus – Eigenes Werk, Gemeinfrei)
Mobilität der Zukunft: Autofreie Innenstädte, Priorisierung des Radverkehrs in den Kernstädten, besser noch in den Ballungsräumen, sind notwendige und richtige Ansätze, zumal in Frankfurt am Main, aber nicht hinreichend im Blick auf die Herausforderungen, vor die wir uns gestellt sehen. Wer sich ausschließlich fokussiert auf MIV-beruhigte oder freie Zonen in den Innenstädten oder auf das Velo als zweifellos wichtigem Schlüssel für die Zukunft der Mobilität auf lokaler und regionaler Ebene, läuft Gefahr zu übersehen, dass Verkehrswende nur gelingt, wenn mit ihr die Energiewende vollzogen wird und beide zusammen als Teil der großen Transformation verstanden wird, deren Ziel die Klimaneutralität sein muss und ein neues Verständnis von gutem Leben, wie es in der Antike formuliert worden ist.
Verkehr ist eine Sekundärfunktion
Verkehr ist mit Ausnahme des Freizeitverkehrs eine sekundäre Funktion: Ich muss mobil sein, wenn ich meine Schule, meinen Ausbildungsplatz, das Unternehmen, in dem ich arbeite, oder die Hochschule, an der ich studiere, erreichen will. Mir ist es angesichts der Raumstrukturen und der funktionalen Trennung (Charta von Athen) nicht freigestellt, ob ich mobil sein möchte oder nicht. Ich bin gezwungen, unterwegs zu sein.
Erste Bedingung für eine Verkehrswende wäre das Nachdenken über neue Raumstrukturen im Sinne der Entwicklung zahlreicher kleiner und mittlerer Zentren, die ein Leben und Arbeiten der kurzen Wege ermöglichen. Kleine und mittlere Zentren, die nicht Ursache der Landflucht sind, sondern Anlass zur Landliebe geben. Womöglich gibt es dafür schon die ersten Anzeichen.
Mobilität der Zukunft:
Raumstrukturen und Verkehrssystem
Mit den veränderten Raumstrukturen könnte ein verändertes Denken über Mobilität einhergehen. Wenn die Raumstrukturen durch neue Verkehrsinfrastrukturen gestützt werden, deren Basis nicht der motorisierte, womöglich elektrisch angetriebene Individualverkehr bildet, sondern attraktive Massenverkehrsmittel im Rahmen eines Öffentlichen Personennahverkehrs, wäre der zweite Schritt getan.
Strukturell bildet dieses Verkehrssystem die Basis für unsere Mobilitätsentscheidungen, ein System, das durch eine Vielzahl anderer Verkehrsmittel ergänzt wird, wozu u.a. auch das emissionsfreie Auto zählt und selbstverständlich das Fahrrad und andere Angebote im Sektor der Micromobilität. Die kombinierte Nutzung solcher Angebote durch smart Apps wie Trafi in Finnland entwickelt die einzelnen Elemente zu einem Ganzen, das mehr Gewicht hat als die Summe aller ihrer Einzelelemente.
Gratis-ÖPNV statt Drittmittelfinanzierung
Die Gewinnung sauberen Stroms ist ein weiterer, wesentlicher Faktor und notwendige Bedingung für die Verkehrswende, aber auch die Antwort auf die Frage, ob wir es künftig verantworten können, Grundfunktionen wie Wohnen und Mobilität mehr oder minder stark einem Markt zu überlassen, der in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend dereguliert worden ist. Modelle wir der Gratis-ÖPNV in Luxemburg werden hier zu Lande kaum diskutiert, während Drittmittelfinanzierung oder in Varianten die Nutzerfinanzierung die Debatten dominiert.
Es sind lediglich einige wenige Aspekte, die auf die Komplexität des Zusammenhangs von Verkehrs- und Energiewende, von Klimaneutralität und großer Transformation hinweisen, die aber alle durchweg in einem systemischen Zusammenhang stehen, den zu beachten notwendig ist, wenn am Ende die Transformation gelingen soll.
All das wäre der Erwähnung nicht wert, weil im Grunde selbstverständlich, aber zwei Faktoren beunruhigen mich: Wir haben nur noch wenig Zeit, eine bislang beispiellose Aufgabe zu lösen, die gleichermaßen die Raumstrukturen ändert, die Innenstädte entlastet, Lebensqualität auch fernab der Zentren ermöglicht und die große Transformation einleitet, um dauerhaft klimaneutral leben und arbeiten zu können.
Ballungsräume: Von der Landflucht zur Landliebe
Wer das Gesamtsystem nicht erfasst und Partikularlösungen anstrebt, verspielt Zeit, die wir für den Wandel hin zu einer strombasierten Ökonomie, also für den Aufbau eines klimaneutralen Systems nicht mehr haben. Es bleiben, legt man die 2020er Studien von Wuppertal Institut, von McKinsey und Agora Energie- und Verkehrswende zugrunde, zwischen 15 und 30 Jahren für den kompletten Umbau der Ökonomie hin zu einer Wirtschaft, die überwiegend oder bestenfalls ausschließlich mit sauberem Strom aus Windkraft-, Solar-, Biogas- und Erdwärme-Anlagen arbeitet. Ein Umbau, der gleichermaßen unsere Lebensweise erfassen und verändern muss wie unser Verständnis von einem „guten“ Leben.
Gefährlich ist zudem die Fixierung auf die großen Städte, weil der Zusammenhang zwischen Landflucht und mangelnder Infrastruktur einerseits und der attraktiven Funktionsmischungen in Großstädten mit ihren Vorteilen bei den Transaktionskosten nicht gesehen wird.
Mobilität der Zukunft:
Drei Faktoren der Landliebe
Wir müssen die ländlichen Regionen endlich stärken. Drei Faktoren scheinen mir dabei wesentlich:
-
- Kindergrippen und -gärten als gemeinsame kommunale und unternehmerische Aufgabe in Kooperation zu begreifen und Angebote aufzubauen, die flexibel nutzbar sind zwischen 7 und 22 Uhr.
-
- Das Gigabit-Zeitalter muss zuallererst auf dem Lande beginnen, die Infrastrukturen aufgebaut und 5G nicht nur an der letzten Milchkanne, sondern auch am letzten Hasenstall verfügbar sein.
-
- Mobilitätsdienstleistungen müssen rund um die Uhr in max 15 Minuten verfügbar sein, weshalb „Autonomes Fahren“ vordringlich für das öffentliche Massentransportsystem (Bus, U-Bahn, S-Bahn, teilautonomes Car-Sharing etc) entwickelt werden muss, und erst in zweiter Linie für den motorisierten Individualverkehr. Mobilitätsstationen wirken in diesem Netz wie die Neuronen als Schnittstellen der Nervenbahnen im Gehirn.
In diesen Räumen wird das Null-Emissionsfahrzeug, ob batterie- oder brennstoffzellenelektrisch betrieben, ob mit zwei oder vier Rädern, ob mit oder ohne Elektromotor – auch in naher und mittlerer Zukunft eine Rolle spielen. Weshalb eine vernünftige Ergänzung der Straßeninfrastruktur durchaus sinnvoll sein kann, wenn gleichzeitig und mittelfristig die Mittel für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zugunsten von ÖPNV, Schiene und Langsamverkehr systematisch umgeschichtet werden.
Schlagworte wie Autokorrektur, feministische Mobilität oder andere moderne Topoi sehe ich vor diesem Hintergrund skeptisch, wenngleich die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte manchen aktuellen Debatten jeden Anlass geben, die Zukunft der Mobilität unter diesen Gesichtspunkten zu sehen. Wer aber über die Zukunft der Mobilität und in der Konsequenz über Energiewende, Große Transformation, aber auch über soziale Frage und Gerechtigkeit nachdenkt, kann das nur systemisch und universalistisch tun.
Systemisch, weil das Ganze das Wahre ist, wie Hegel geschrieben hat, und jede noch so gut begründbare und sinnvolle Partikularmaßnahme in ihrer Singularität nicht zum großen Ziel führen wird, weil ihr die Einbettung ins Ganze fehlt. Universalistisch, weil die Verkehrs- und Energiewende als Teilschritt hin zur Großen Transformation und auf dem Weg zur Klimaneutralität ALLE Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Glauben und sozialer Lage erfassen muss.
Mitte und Maß und die richtige Ordnung
In letzter Konsequenz steht damit die aktuelle Form unseres Wirtschaftssystem zur Disposition, wie sich aktuell als Finanzkapitalismus darstellt. Max Horkheimer hat im Rückblick auf die Zeit des Nationalsozialismus geschrieben: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Harald Welzer hat den Satz aktualisiert in der Variante „Wer vom Klimawandel spricht, darf vom Kapitalismus nicht schweigen.“
Es ist hohe Zeit, diese Debatte intensiver zu führen. Für die Große Transformation wie für die Herausforderung Klimaneutralität setzt die Frage, nach welchen Regeln wir wirtschaften, den Handlungsrahmen. Mein alter Lehrer Herfried Münkler, der die antiken Autoren sehr intensiv studiert hat, hat das in seinem Buch „Mitte und Maß“ so ausgedrückt: „Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsordnung, die von sich aus kein Maß kennt. Maß und Maßstab müssen von außen an ihn herangetragen und gegen seine Dynamik durchgesetzt werden.“
Darum geht es, wieder eine Idee davon zu bekommen, was Maß halten bedeutet – gegen Hyperkonsum und Hypermobilität, gegen Ressourcenverschwendung und innerhalb der planetarischen Grenzen, die uns den Rahmen geben für die Art und Weise, wie wir leben und wirtschaften sollten.