Die Frage ist sinngemäß wiederholt gestellt, bislang aber nur unbefriedigend beantwortet worden: „Wie sieht die Zukunft der öffentlichen Mobilität aus, und was bedeutet öffentliche, geteilte Mobilität für unsere Gesellschaft?“ Die Organisator*innen und Sprecher*innen der ersten Branchenveranstaltung unter der Überschrift „Zukunft Nahverkehr“ (#znv23) haben Anfang September in Berlin um Antworten gebeten – und sind reich belohnt worden. Was nicht zuletzt dem umfangreichen Programm geschuldet ist, in dessen Verlauf viele Einzelaspekte des Themas bei unterschiedlicher Flughöhe verhandelt worden sind: von technisch-betriebswirtschaftlichen Fragen über politische und soziale Aspekte der Mobilität bis hin zu gesellschaftlich-politischen Entwicklungen, die unmittelbar Einfluss auf unser Mobilitäts- und damit auch auf unser Verkehrsverhalten haben.
Die Veranstaltung als Forum für einen interdisziplinären Austausch hat die Premiere bestanden, wenngleich noch nicht das ganze Potenzial ausgeschöpft ist. Womöglich ist weniger mehr: zuweilen treten die parallel angebotenen Foren und Diskussionen in Konkurrenz miteinander und nehmen sich das Publikum. Gesellschaftliche Aspekte auch in ihrer ökonomischen und sozialen Dimension (Einkommensentwicklung und Mobilitätsarmut) hätten auf der znv ihren guten Platz, sind aber kaum erörtert worden, etwa auf dem Podium mit Mitgliedern des Verkehrsausschusses des Bundestages, die über das 49€ Ticket diskutiert haben.
Die Branche muss mit einer Stimme sprechen
Design-Fragen haben für die Akzeptanz des ÖPNV eine bislang noch unterschätzte Bedeutung, weshalb die ZNV um diesen Aspekt erweitert werden könnte.
Wer den systemischen Ansatz in der Mobilität erarbeten will, sollte aus der Vielzahl der Einzelergebnisse am Ende der Veranstaltung die Fäden zusammenführen und Forderungen an die jeweils Verantwortlichen (Politik, Wirtschaft) formulieren. Darin läge ein ungeheurer Mehrwert. Mehr denn je sind alle in der Branche gefordert, mit einer Stimme zu sprechen und deutlich zu machen, dass Ressourcen und Räume im Verkehr dringend neu geordnet werden müssen.
Dass Subventionen abgeschafft und das Verursacherprinzip (Kostenwahrheit) angewendet wird, ist eine alte, wenngleich aktuelle Forderung. Und wenn dann eine neue Kommunikation über die Chancen und Annehmlichkeiten eines in der Qualität wie in der Zuverlässigkeit verbesserten Öffentlichen Verkehrs herausgearbeitet wird, hat der ÖPNV wie der Öffentliche Verkehrs insgesamt eine große Zukunft. Das ist die große Chance für die Zukunftsplattform Nahverkehr, die mit STATION in Berlin den richtigen Ort für die Debatten gefunden hat.
Habitus und Mobilität
Dass Mobilität als Möglichkeit zur Teilhabe und zur Bedürfnisbefriedigung einerseitsund Verkehr als realisierte Mobilität im Sinne einer Ortsveränderung im Raum andererseits eine Folge von individuellen Entscheidungen im Alltag sind, hat der Zukunftsforscher und Stadtgeograf Stefan Carsten auf der Plattform Zukunft deutlich gemacht. Ob und wie ich mich bewege, hängt davon ab, wie ich lebe und arbeite. Verändert sich mein Habitus, verändert sich auch mein Mobilitätsverhalten: Wenn sich seit 2019 der Außer-Haus-Anteil im Alltag um 9% verringert hat, wird das Auswirkungen auch darauf haben, wie oft ich ein Verkehrsmittel nutze.
Digitalisierung und Virtualisierung haben zudem einen erheblichen Einfluss auf unseren Lebensstil und verändern vermutlich ebenso tiefgreifend die Wahrnehmung unserer Umwelt wie unser Mobilitätsverhalten in der physischen wie in der virtuellen Welt. Dass Menschen Wohnungen in virtuellen Hochhäusern (glo-tower.ch) oder Anteile an virtuellen Wäldern kaufen, ist gleichermaßen lustig wie erschütternd und besorgniserregend.
Vor dem Hintergrund von New Work & Mobility stellt Carsten die Frage nach dem Sinn eines 49€-Tickets, wenn Beschäftigte nur noch zweimal in der Woche ins Büro fahren. Zudem ist der Zugang zu einem Produkt der Mobilitätsbranche offenbar wichtiger als das Produkt selbst. Wer als Mobilitätsanbieter etwa kein kontaktloses Bezahlen ermöglicht, wird Kund*innen verlieren. „Das Angebot schafft die Nachfrage“, sagt Carsten, und es dauere fünf bis sechs Jahre, bis solche Angebote erfolgreich seien.
Räumlichkeiten und Architekturen für neue Mobilitätsangebote
Mobilitätsangebote wie Mobilitätshubs müssen aber auch präsent im Raum sein, als Angebot sicht- und gleichermaßen erfahrbar. Es müssen, sagt Carsten, neue Räumlichkeiten und Architekturen entstehen. Ob im großen Stil wie in Paris (Pont de Bondy und St Denis Pleyel Station) oder im kleineren Rahmen wie in Remmingen (Edeka Tiny Store). Die Autor*innenteam im Kai Vöckler und Peter Eckart, die das mehrbändige Werk „Mobility Design“ herausbringen, werden dieser These aus voller Überzeugung zustimmen können.
Stefan Carstens kritische Frage nach dem Sinn des 49 €-Tickets haben vier Vertreter*innen der Bundestag vertretenen Parteien weitgehend im Konsens diskutiert, wobei die von DB Regio Vorstand Dr. Jan Schilling gegebenen Hinweise auf den notwendigen Ausbau der Infrastruktur womöglich nicht bei allen in notwendiger Deutlichkeit angekommen ist. Was nutzt ein günstiges Monatsticket, wenn am Wochenende die Regionalzüge überfüllt sind und die Bahn davon abrät, bestimmte Relationen gerade Richtung Ostsee zu nutzen.
49 €-Ticket – eine Erfolgsgeschichte der Verkehrspolitik
Auf den ersten Blick ist das D-Ticket als Nachfolger des 9 €-Tickets ein Erfolg, seit Einführung sind elf Millionen deutschlandweit gültige Monatsfahrscheine verkauft worden. Zugegriffen haben im Regelfall aber die alten Dauerkartenbesitzer*innen. 8% der D-Ticket-Inhaber*innen sind Neukunden. Die gute Nachricht: 5% aller Fahrten mit dem D-Ticket wären ohne das Angebot mit dem Pkw zurückgelegt worden, weshalb DB Regio-Vorstand Schilling darum bat, das Ticket nicht schlechtzureden.
Von einem Erfolg sprachen deshalb Nyke Slawik (Bündnis 90/Die Grünen), stellvertretende Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Bundestages, Dorothee Martin (SPD) und Valentin Abel (FDP), während Michael Donth (CDU) dem Projekt zwar eine soziale Entlastungsfunktion zusprach, aber keinen Beitrag zu Verkehrswende erkennen wollte. Das Geld, sagt Donth, lande in den Taschen der Fahrgäste und nicht in den Kassen der Verkehrsbetriebe.
Nun drängt die Zeit, weil bis spätestens 30. September Bund und Länder übereinkommen müssen, wie das Deutschland-Ticket weiter finanziert wird. Die Abgeordneten der Ampel-Koalition sind optimistisch, dass es gelingen wird.
Neben der Frage des Zugangs zum Verkehrssystem müssen Politik und Wirtschaft eine Antwort geben, welche Energie für den Betrieb des ÖPNV und SPNV genutzt werden soll angesichts eines Klimawandels, der an Dynamik gewinnt. Rund ein Drittel der Zugkilometer werden heute im Schienenpersonenverkehr mit Dieselzügen erbracht. Der Biokraftstoff HVO ist nach Einschätzung der DB eine zentrale Lösung beim Dieselausstieg. HVO biete bereits kurzfristig bilanziell rund 90 % CO2e-Einsparungsmöglichkeiten.
Unter der Überschrift „Biokraftstoff HVO als Klimaschutz-Sofortmaßnahme – erprobt, am Markt verfügbar und direkt im Betrieb einsetzbar?!“ diskutierten Marco Lietz (Neste), Max Linier, Technik-Ressort der DB AG, Mistil Kilicarslan, Vertrieb Tankdienste bei der DB Energie GmbH, Thomas Ressel, Leiter der Abteilung Planung beim Nahverkehr-Westfalen und Tim Fischer (DB Regio) das Thema.
„HVO leistet einen Beitrag zum Klimaschutz“
Die Runde war sich einig, dass HVO einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leistet und vor allem praxistauglich ist. Das hydrierte Pflanzenöl, hergestellt aus Abfällen aus der Forstwirtschaft, aus Altöl und aus anderen biogenen Rest- und Abfallstoffen, verbrenne rußärmer, emittiere weniger Schwefel und sei zudem für alle Fahrzeuge im DB Konzern zugelassen, sagte Linier. Der Betrieb mit HVO laufe unauffällig, bekundete Thomas Ressel.
Kraftstoffhersteller Neste will die Produktion von HVO von 3,5 Mio t bis 2025 auf 6,8 Mio t erhöhen, der Großteil des hydrierten Pflanzenöls soll in der Luft- und Seefahrt verwendet werden.
Mit dem HVO ist es wie mit den eFuels: Schränkt man die Betrachtung auf die CO2-Emissionen ein, schneiden beide gut ab. Bei der Energieeffizienz fällt die Bilanz aber negativ aus. Sepp Reitberger hat für efahrer.com im April vergangenen Jahres folgenden Schluss gezogen: „Während die Verbrennung von Fetten und Ölen in Heizkraftwerken mit einem Wirkungsgrad von wenigstens 40 Prozent erfolgt, schafft ein moderner Dieselmotor im realen Betrieb im Schnitt weniger als 30 Prozent. Allein dieser Unterschied bedeutet bereits, dass es effizienter ist, die Rohstoffe unraffiniert zu verbrennen, anstatt sie zu Motoren-Treibstoffen zu machen. Der erzeugte Strom bringt in ein Elektroauto geladen mehr Antriebsleistung als ein Verbrenner aus dem gleichen Grundstoff machen kann.“
Mehr Engagement für die Antriebswende
Mit der Frage „Scheitert die Antriebswende? Was muss jetzt getan werden?“ haben sich Christiane Leonard (BDO e.V.), Horst Schauerte (Bereichsleiter Mobilität Stadtverkehr Friedrichshafen GmbH), Prof Dr Tom Reinhold (Geschäftsführer traffiQ), und Manuel Bosch (Verlagsleiter Technik & Verkehr bei der DVV Media Group GmbH) beschäftigt.
Einig waren sich die Panelisten, dass dem E-Bus die Zukunft im Regional- und Nahverkehr gehört. Allerdings müssten dafür die Rahmenbedingungen geschaffen werden: Bislang sei die Beschaffung der Busse teuer und aufwändig und der Ankauf von Bussen mit Brennstoffzellen gar noch teurer. Zudem sei für die Antriebswende die Infrastruktur und das Betriebskonzept entscheidend. „Die Rahmenbedingungen entscheiden über die Antriebswende, nicht die Technik“, war einhellige Meinung.
Klärungsbedarf bei der notwendigen Förderung von E-Bussen sieht vor allem BDO-Hauptgeschäftsführerin Leonard. Die Hälfte aller Busse werde heute von mittelständischen Verkehrsunternehmen gefahren, die bei der Förderung in den ersten Jahren komplett rausgefallen seien. Mit staatlicher Förderung staatliche Aufgabenträger bei der Beschaffung von E-Fahrzeugen zu unterstützen, hält Leonard für nicht geeignet in der Zukunft.
Dr. Jens Sprotte, Vice President Marketing & Strategy Alstom, Reinhold Wurster (Senior Project Manager und Consultant, Ludwig-Bölkow-Systemtechnik), Dr. Thomas Grube (Forschungszentrum Jülich) und Dr. Ulf Neuling (Agora Verkehrswende) haben auf dem Panel des House of Logistics and Mobility mit dem Thema „Effiziente Energiespeicher für die Mobilität von morgen“ debattiert. Wo welche Energieform genutzt werden kann, hängt von spezifuschen Bedingungen vor Ort ab.
Energie und Verkehr
Dabei geht es auch um die Frage, auf welchem Wege Energie transportiert wird. Und womöglich wäre eine Wasserstoffpipeline weniger aufwändig und leistungsfähig als eine Überlandleitung. Schließlich und endlich geht es nach Einschätzung des Panels auch darum, wie die emissionsfreie Energie für den Verkehr bereitgestellt wird. Alstom-Sprecher Sprotte regt beispielsweise an, die Wasserstofftankstelle für den Coradia iLint am Industriepark Höchst auch für die Lkw zu öffnen.Moderiert wurde die Runde vom Clustermanager Mobility in der HOLM GmbH, Jürgen Schultheis.