Ein ausgeprägter Gestaltungswille, das Gefühl, der Gemeinde oder Stadt verpflichtet zu sein und der Wunsch, das Gemeinwohl zu fördern: Das sind Gründe, warum Menschen sich in der Politik engagieren und bereit sind, Ämter und Aufgaben zu übernehmen. Doch die Attraktivität des Bürgermeisteramtes sinkt wie generell die Bereitschaft, sich in Landes- und Bundesparlamente wählen zu lassen. Wer ein öffentliches Amt übernimmt, wird heute nicht selten beschimpft, beleidigt und bedroht. Manche ziehen sich zurück, andere treten gar nicht erst an oder legen ihr Amt nieder.
Über dieses Thema haben der ehemalige MdB und langjährige Außenpolitiker Michael Roth (SPD) und Bürgermeister Andreas Weiher (SPD) Mitte Oktober in Wächtersbach gesprochen. Roth las im Gespräch mit Pfarrerin Beate Rilke aus seinem aktuellen Buch „Zonen der Angst“. Ich hatte das Vergnügen, in die Veranstaltung einführen zu dürfen.
Roth: Wut und Verachtung in den sozialen Medien

Der 51-jährige Roth war acht Jahre Europastaatsminister und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. In dieser Funktion hat er sich für die Ukraine engagiert und sich für Waffenlieferungen ausgesprochen. Roth erzählt in seinem Buch von Machtkämpfen, dem Einfluss sozialer Medien und drohenden Shitstorms. „Inzwischen wird Facebook zunehmend gekapert von Wutbürgern und Demokratieverächtern, die Hass und Verachtung verbreiten.“ Manches davon bleibe im Fell hängen, sagte Roth.
Roth warnte an diesem Abend davor, sich nicht an diesen Ton zu gewöhnen. „Wir sind davon längst angesteckt und infiziert.“
Dass es Politiker*innen nicht geschafft hätten, mit ihren Themen die Menschen emotional zu berühren, nennt der Sozialdemokrat im Rückblick einen Fehler. Es war Max Weber, der große deutsche Soziologe und Nationalökonom, der in seinem bekannten Essay „Politik als Beruf“ notiert hat: „Politik wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiss nicht nur mit dem Kopf gemacht.“ Für Weber müssen Politiker*innen Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß mitbringen, und wer Roth und Weiher an diesem Abend zugehört hat, hat davon einen lebendigen Eindruck bekommen.

Bürgermeister Weiher: Der Wind wird zunehmend rauer
Andreas Weiher, seit 2014 Amtschef in der hessischen Kleinstadt Wächtersbach, bewirbt sich in diesen Tagen erneut für das Amt (Wahl am 2. November). Auch er wie viele andere Amtsinhaber spürt den zunehmend rauen Wind auf kommunaler Ebene und fragt sich, wie eine sachliche Debatte über kommunalpolitische Themen künftig noch möglich ist angesichts zunehmender Beleidigungen und Bedrohungen. Das macht das Amt wie generell ein Mandat für die Bewerber nicht attraktiver.

Beispiel Rheinland-Pfalz: Auch mehr als ein Jahr nach den Kommunalwahlen im Frühjahr 2025 sind noch immer 53 Gemeinden ohne Bürgermeister*in. Zur Wahl im Frühsommer vergangenen Jahres trat in mehr als 500 Kommunen – einem Viertel der Gemeinden im Bundesland – kein Kandidat an.
Im Jahr 2023 gaben 38 Prozent der Mandatsträger*innen an, in den vergangenen fünf Monaten Bedrohungen erlebt zu haben. 64 Prozent sagten, dass sie ihr Verhalten aufgrund der Anfeindungen bereits geändert haben.
Politiker*innen werden häufig beleidigt und beschimpft

81 Prozent der Betroffenen leiden unter psychischen und physischen Folgen wie depressive Verstimmungen, Angst oder Konzentrationsschwierigkeiten; sie verzichten auf bestimmte Meinungsäußerungen, auf eine erneute Kandidatur oder erwägen gar eine Mandatsniederlegung, berichtet Motra (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung).
Die bundesweite Bedeutung des Problems belegt eine Umfrage der Zeitschrift Kommunal vom März 2020. In der bisher größten Erhebung zu dem Thema wurden 2.494 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister befragt. 64 Prozent gaben an, bereits einmal beleidigt, beschimpft oder tätlich angegriffen worden zu sein. Besonders schwer trifft dies die zahlreichen Politikerinnen und Politiker, die sich auf kommunaler Ebene ehrenamtlich engagieren. Zu diesem Ergebnis kam jüngst eine weitere, von der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebene Studie, in der die besonderen Herausforderungen des politischen Ehrenamts näher beleuchtet worden sind.
Attentate und Anschläge auf Politiker*innen
Die Liste der Angriffe und Attentate auf Politiker*innen in jüngster Zeit umfasst ein Dutzend Namen, darunter der SPD-Europapolitier Matthias Ecke, Georg Gallus (FDP), Kreisrat in Baden-Württemberg, der tödliche Anschlag auf Walter Lübcke (CDU) in Kassel, Andreas Hollstein, Bürgermeister in Altena, Henriette Reker, parteilose Oberbürgermeisterin in Köln, den SPD-Landrat Rüdiger Butte, der 2013 erschossen worden ist, und die Attentate auf Oskar Lafontaine, ehemals SPD und heute BSW, und Wolfgang Schäuble (CDU).

Ex-Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) hat diese Entwicklung womöglich geahnt, als er in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht nur den Sozialdemokratie ins Stammbuch geschrieben hat: „Wo Zivilcourage keine Heimat hat, reicht Freiheit nicht weit.“


