Gratis ÖPNV – eine Investition in die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes

Der Gratis ÖPNV ist eine wesentliche Investition in die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes, sagt Luxemburgs Vizepremier und Minister für Mobilität und Öffentliche Arbeiten, Francois Bausch. Der Nachbarstaat führt am Sonntag, 1. Marz,  den Gratis-ÖPNV für Bürgerinnen und Bürger des Landes, für Pendler und Touristen ein. Damit macht das Nachbarland einen großen Schritt in Richtung “ÖPNV der Zukunft”.

Während hier zu Lande der Ausbau stockt und der VDV ein 365-Euro-Ticket in aktuellen Situation ablehnt, zeigt Luxemburg, wie durch den konsequenten Ausbau der Infrastruktur, durch ein durchdachtes Multimodalitätskonzept und  durch einen Gratis ÖPNV als “Kirsche auf der Sahnetorte” (Francois Bausch) die Verkehrswende gelingen kann. Ich hatte das Vergnügen, Minister Bausch Ende Januar interviewen zu können.

Medienschau am Ende des Beitrages, der Link zum Video-Interview

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Vizepremier Bausch.

Mobilitätsminister Francois Bausch (Bild) plädiert für einen Paradigmenwechsel in der Mobilität – weg vom Individualverkehr und hin zur Multimodalität. Vor diesem Hintergrund und der Frage, wie sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert organisieren wird, hat die Regierung in Luxemburg entschieden, den Öffentlichen Personenverkehr von 1. März an gratis bereitzustellen. Luxemburg ist damit der erste Staat weltweit, der Öffentlichen Personennahverkehr im ganzen Land gratis anbietet.

Das Angebot richtet sich laut Minister Bausch nicht nur an die Staatsbürgerinnen und -bürger, sondern auch an Touristen, die ins Land kommen, und an die wachsende Zahl von Pendlerinnen und Pendler etwa aus Frankreich und Deutschland. Das hat der Minister in der neuen Video-Interview-Reihe des House of Logistics and Mobility (HOLM) unter dem Titel „Insights – Pioneering Mobility“ bestätigt.

Bausch über den Gratis ÖPNV: “Wir machen das Richtige”

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Die neue HOLM-Videointerview-Reihe “Insights – Pioneering Mobility”

Bausch sieht im Kontext der Luxemburger Mobilitätsstrategie Modu 2.0 durchaus keinen Widerspruch darin, Öffentlichen Personennahverkehr gleichzeitig gratis und attraktiv zu machen. Das hatte Hessens Verkehrsminister Tarek Al-Wazir Anfang 2018 der F.A.Z ausgeschlossen. “Es wäre völlig  verfehlt, das Geld komplett auszugeben, um den Fahrpreis auf Null herunter zu subventionieren und dann keine Mittel mehr zu haben, um das Angebot zu verbessern und die Infrastruktur auszubauen”, sagte Al-Wazir in der F.A.Z.

Bausch: „Wir machen das Richtige, nämlich nicht nur Öffentlichen Nahverkehr gratis zu machen. Wir haben auch ein riesiges Investitionsprogramm, um den öffentlichen Verkehr, was Qualität und Angebot anbelangt, sehr stark auszubauen. Es basiert auf einer Gesamtstrategie. Tarel Al-Wazir hat natürlich recht: Wenn man nur den Öffentlichen Nahverkehr gratis macht und nichts ändert am System und das System in einer schlechten Verfassung gratis macht, bringt das überhaupt nichts.“

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Die Seilbahn verbindet den Fernbahnhof in Luxemburg mit der Station Paffenthal-Kirchberg im Europaviertel der Stadt

ÖPNV reduziert Treibhausgase in Deutschland um mehr als zehn Millionen Tonnen pro Jahr

Im ÖPNV werden in Deutschland rund 110 Milliarden Personenkilometer zurückgelegt. Würde die gleiche Verkehrsleistung im motorisierten Individualverkehr erbracht werden, würde der Ausstoß von Treibhausgasen um jährlich 17,7 Millionen t höher liegen. Der ÖPNV trägt bundesweit rund 7,2 Millionen t Treibhausgase zur Gesamtbelastung durch den Verkehr bei. Rechnet man die Emissionen vom Ausstoß ab, den die gleiche Verkehrsleistung im MIV verursachen würden. bleibt unterm Strich eine Minderung von 10,5 Millionen t weniger CO2eq pro Jahr.

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Fahrradweg an der Avenue John F. Kennedy in Luxemburg unweit des Mobilitätsministeriums.

Rund zehn Prozent aller Wege in Deutschland werden im ÖPNV zurückgelegt, womit 19% der Verkehrsleistung erbracht wird. Etwa ein Drittel aller Berufstätigen legt den Weg zur Arbeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Dennoch wächst die Zahl der Staus und die Länge der Staus auf Autobahnen und in Städten und Metropolregionen.

„Es war vor 15 Jahren schon klar, dass das an die Wand geht, wie wir Mobilität organisieren, dass das nicht mehr funktioniert“, sagt  Bausch. Der Gratis-ÖPNV  sei deshalb „eine wesentliche Investition in die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes. Wenn wir das nicht tun, wird der Wirtschaftsstandort leiden.“

Mehr Zuspruch durch die Verbesserung des Angebotes und den Gratis ÖPNV

Angesichts der wachsenden Verkehrs im Land, nicht zuletzt verursacht durch die Vielzahl der Pendler aus den Nachbarstaaten, gebe es „auch Umweltprobleme, das ist klar. Aber der Hauptgrund war, die Attraktivität des Landes zu erhöhen“, sagt Bausch im HOLM-Videointerview in der Reihe „Insights – Pioneering Mobility“.

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Die Mobilitätsstation Pfaffenthal-Kirchberg an der Avenue John F. Kennedy in Luxemburg. Die Mobilitätsstation verbindet die Bahnstation im Tal mittels Seilbahn mit dem Bus- und Straßenbahnhalt an der Avenue. Rechts, außerhalb des Bildes, steht außerdem eine Fahrradstation.

„Den größten Zulauf werden sie im Öffentlichen Verkehr (ÖV) durch die Verbesserung des Angebotes bekommen, nicht durch den Preis“, sagt Bausch vor dem Hintergrund der Debatte über den kostenlosen ÖPNV in Deutschland.

Eine Studie der Fakultät Wirtschaftswissenschaften der TU Dortmund („Optionen der politischen Regulierung des Personenverkehrs“) kommt zum Ergebnis, dass die Vergünstigung des ÖPNV und ein Ausbau bzw Umbau von Auto- in Fahrradstraßen eine geringere Lenkungswirkung hat im Vergleich zur Erhöhung der Kosten des Autos, eine Verlangsamung des Autos auf kleinen Straßen und einer Komfortsteigerung des Fahrrades.

Bausch sagte im HOLM-Video-Interview, dass zuerst ein Angebot im öffentlichen Verkehr (ÖV) geschaffen werden müsse, bevor der motorisierte Individualverkehr verteuert werde. Nur so könne die Entstehung einer Gelbwesten-Bewegung in anderen europäischen Staaten vermieden werden.

European Green Deal fehlt Mobilitätsstrategie

„Den ÖV gratis zu machen, ist eine Option, die auch vor sozialem und gesellschaftspolitischem Hintergrund absolut Sinn macht“, sagt Bausch. „Der Preis ist nicht unwichtig, und ein sehr hoher Preis ist nicht sinnvoll. Für mich ist der Gratis-ÖV auch eine soziale Maßnahme. Das Angebot ist ausschlaggebend, ohne Steigerung des Angebotes und der Qualität werden sie nichts erreichen.“

Dem European Green Deal der EU fehlt nach Einschätzung von Minister Bausch eine Mobilitätsstrategie, um eine Verkehrswende in Europa in den nächsten zehn Jahren erfolgreich gestalten zu können. „Grundsätzlich finde ich das gut, dass sich die Kommission entschieden hat, in diese Richtung zu gehen“, sagte Bausch. Aber derzeit gebe es diese Strategie nicht.

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„Den ÖV gratis zu machen, ist eine Option, die auch vor sozialem und gesellschaftspolitischem Hintergrund absolut Sinn macht“, sagt Bausch im Interview mit Jürgen Schultheis (HOLM GmbH).

Zudem hätte der Generaldirektion Mobilität und Transport (DG Move) ein höherer Stellenwert in der neuen Kommission gegeben werden müssen, „weil der Transportsektor in der gesamten Europäischen Union eine sehr große Rolle spielt, wenn es darum geht, CO2 zu reduzieren. Luxemburgs Vizepremier bemängelt darüber hinaus, dass ein großes öffentliches Investitionsprogramm im Green Deal fehlt. Das sei eine große Schwäche. Die Programme seien zu klein, „so schaffen wir das nicht“.

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Dem European Green Deal fehlt eine Mobilitätsstrategie, sagt Luxemburgs Vizepremier Francois Bausch.

Mitte Dezember hatte die Europäische Kommission den Green Deal vorgestellt. Die EU-Kommission will damit den Weg zur klimaneutralen Wirtschaft ebnen. Ziel sei es, „die Wirtschaft mit unserem Planeten in Einklang zu bringen“ und dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft „für die Menschen arbeitet“, sagte EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen damals.

Das HOLM-Interview mit Minister Francois Bausch.

Rückblick auf den Gratis ÖPNV in Deutschland

Anfang 2018 hatten die geschäftsführenden Minister Barbara Hendricks, Peter Altmaier und Christian Schmidt, einen “kostenlosen” ÖPNV einzuführen („Public transport free of charge“) ein bemerkenswertes Echon ausgelöst.  Das Vorhaben, das der Bund nach Angaben des Trios zusammen mit Ländern und Gemeinden voranbringen möchte, ist einer von sieben Vorschlägen, die in einem Brief mit Datum vom 11. Februar 2018 an EU-Umweltkommissar Karmenu Vella formuliert worden waren (Siehe Beitrag: “Kostenloser” ÖPNV- eine Chance für die Verkehrswende).

Damals waren die Städte Bonn und Essen (Nordrhein-Westfalen) und Mannheim, Reutlingen und Herrenberg (Baden-Württemberg) von der Bundesregierung als Modellkommunen ausgewählt worden. Doch keine der Städte hatte Interesse, ein Pilotprojekt auf den Weg zu bringen.

Gratis ÖPNV: “Zu teuer und nicht effektiv”

Die Skepsis bei den Kommunen war groß, zuweilen beriefen sich Gegner auf die oben genannte Studie der TU Dortmund und schlossen daraus, der “kostenlose” ÖPNV sei teuer und nicht effektiv”. Auch der Verband der deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) lehnt den “kostenlosen” ÖPNV unter den aktuellen Bedingungen ab  und spricht sich sogar gegen die Einführung des 365-Euro-Tickets aus.

Der Verlauf der Debatte und die Reaktionen hier zu Lande auf vergünstigten oder einen Gratis – nicht kostenlosen – ÖPNV zeigen, wie stark die Interessengruppen in ihren vertrauten Argumentationsmuster gefangen sind: Statt endlich die Abschaffung von Subventionen zu fordern, die sich laut Umweltbundesamt allein im Sektor Verkehr auf mindestens 30 Milliarden Euro addieren und einen abgestimmten Infrastrukturentwicklungsplan nah dem Modell des Aufbaus Ost zu fordern, belassen es die Akteure bei schlichter Ablehnung.

Vor dem Hintergrund der versäumten Ziele bei der Begrenzung der Emissionen, die im Verkehrssektor heute größer sind als im Referenzjahr 1990, und einem rapide beschleunigten Klimawandel kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Mit der Einführung des Gratis-ÖPNV scheint die Debatte aber einen neuen Akzent zu bekommen.

Die Medienschau zum Thema (Stand: 1. März 2020)

  • Süddeutsche Zeitung, 29. Februar 2020: “Luxemburg feiert kostenlosen Nahverkehr” (Link)
  • The Guardian, 28. Februar 2020: “Luxembourg is the first country to make all public transport free” (Link)
  • Die ZEIT, 7. Januar 2020: “Quer durch Luxemburg zum Nulltarif” (Link)
  • taz, 1. März 2020: “6 Prozent steigen um” (Link) Interview mit Prof. Dr. Barbara Lenz, Leiterin des Instituts für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
  • Handelsblatt, 29. Dezember 2019: “Luxemburg macht Bahn und Bus als erstes Land kostenlos” (Link)
  • Die Welt, 29. Februar: “Luxemburg feiert kostenlosen Nahverkehr” (Link)
  • Redaktionsnetzwerk Deutschland, 29. Dezember 2019: “Experiment in mehreren Städten – wird der Nahverkehr jetzt überall kostenlos?” (Link)
  • Badische Zeitung, 29. Februar 2020: “Nachhaltigkeitsexperte hält kostenlosen Nahverkehr in Deutschland für möglich” (Link) Interview mit Prof. Dr. Kai Niebert (ETH Zürich)
  • Trierischer Volksfreund, 27. Februar: Busse und Bahnen schon ab Samstag kostenlos” (Link)
  • Letzebuerger Journal, 19. Oktober 2019: “Zuschuss für deutschen ÖPNV?” (Link)
  • Gulf News, 29. Februar: “Luxembourg becomes first country with free public transport” (Link)

Fernsehberichte:

  • ZDF, 2. Februar 2020: “In Luxemburg ist der ÖPNV kostenlos” (Link)
  • Tagesschau, 29. Februar 2020: “Kostenloser ÖPNV ist erst der Anfang” (Link)
  • ProSieben Galileo, 2. Mai 2019: “Kostenloser Nahverkehr – ist er auch in Deutschland möglich?” (Link)

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