„Der Respekt vor dem mündigen Staatsbürger verlangt,
daß man ihm Schwierigkeiten nicht vorenthält.“
Bundeskanzler Willy Brandt im Bundestag am 14. Januar 1970
Enkeltaugliche Mobilität ist verantwortbare Mobilität. Sie ermöglicht und bewahrt die Freiheit der Bewegung auf Dauer auch denen, die nach uns kommen und schützt das Klima, dessen Zustand für uns existenziell ist. Dass Klimaschutz, besser verstanden als Menschenschutz, auch eine Frage der Ethik ist, wird nicht bestritten, aber heute als irrelevant für die Praxis bewertet. Niemand werde sein Mobilitätsverhalten aus ethischen Gründen ändern, obwohl er durch seine ethisch wie ökologisch fragwürdigen Entscheidungen andere über Gebühr belastet und deren Recht auf Unversehrtheit einschränkt.
Aber wen interessiert es noch hierzulande? Die Lage ist unbefriedigend. Weshalb vor bald fünf Jahren im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Ethik der Mobilität – wie viel Verkehr können wir noch verantworten?“ im House of Logistics and Mobility (HOLM) das Konzept einer „Enkeltauglichen Mobilität“ erarbeitet worden ist. Ein Konzept, das heute aktuelle denn je ist, wie der langsam einsetzende Roll-back bei der Verkehrswende, vor alle in Berlin zeigt.
Der Download-Link für das Papier „Enkeltaugliche Mobilität“ steht am Ende des Textes.
Dass jeder Mensch das Recht auf Unversehrthat hat, unabhängig davon, wo er lebt auf diesen Planeten, legt etwa die Charta der Grundrechte der Europäischen Union fest: „Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit“, heißt es dort, und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland betont: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“
Die Kraftlosigkeit des ethischen Arguments
Trotzdem herrscht heute über die Kraftlosigkeit des ethischen Arguments weitgehend Konsens. Mit Kants Ironie könnte man sagen: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Verwunderlich daran ist die falsche Konsequenz, die aus dem bloßen Befund der Kraftlosigkeit gezogen wird: Statt für die Grundlagen einer werteorientierten Gesellschaft zu sensibilisieren und zu überzeugen, deren Grad an Zivilisation durch das Bewusstsein für verantwortliches Handeln, also Ethik, ausgewiesen wird, verbeugen sich die so genannten Praktiker heute vor einem auf individuelle Nutzenmaximierung reduzierten Utilitarismus.
Der vor allem ist gut, der selber alles bedenket,
Edel nenn´ich auch jenen, der gute Zuspruch gehorsam
Aber wer selber nicht denkt und auch dem Wissen des andern
Taub sein Herz verschließt, der Mann ist nichtig und unnütz
Hesiod, Werke und Tage
Wenn bei persönlichen Entscheidungen alles danach ausgerichtet und darauf reduziert wird, was bequem, komfortabel, einfacher, frei von Belastungen und Zumutungen und vor allem gewinnbringend ist für den Einzelnen ist, wächst die Gefahr, dass die Werteorientierung als Basis jeder zivilisierten Gesellschaft vollends aus dem Blick gerät. Ohne Werteorientierung bricht das Fundament einer Gesellschaft weg, sofern Gesellschaft nicht als bloße zweckorientierte Tauschgemeinschaft verstanden wird.
Was einmal selbstverständlich war, dass es nämlich für den Einzelnen gleichermaßen eine Hol- wie eine Bringschuld gegenüber Staat und Gesellschaft gibt, dass es auch um Pflichten geht, gerät in Vergessenheit. Wir akzeptieren aus falschem, mutmaßlich empirisch begründetem Pragmatismus, dass aus dem gebildeten Bürger im Staat und dem zivilisierten Menschen in der Gesellschaft – das Ziel jeder Erziehung – ein durch Egoismen geprägter Kunde wird, der stets und immer die vielfältigsten Dienstleistungen für sich gleich welcher Art einfordert – im Ton immer lauter und im Habitus immer aggressiver. Verantwortliches Handeln hat in diesem Kontext schon lange keinen Platz mehr.
Übrigens ist jeder minderwertige Mensch in Unwissenheit darüber, was er zu tun oder zu lassen habe, und auf Grund dieses Fehlers bekommen die Menschen einen ungerechten und überhaupt einen verwerflichen Charakter.
Aristoteles, Nikomachische Ethik
Und dann wundern wir uns, dass ein solcher Mensch mit dem Hinweis auf seine Verantwortung nicht mehr zu erreichen ist. Was uns wiederum zum Schluss verleitet, dass aus ethischen Gründen niemand sein Verhalten ändern wird. Der Teufelskreis hat sich geschlossen.
Enkeltaugliche Mobilität und die Katastrophe von Valencia
Das sind die eher grundsätzlichen Überlegungen, die mich veranlasst haben, nach den Ereignissen in Valencia Ende Oktober 2024 über Energie, Klimawandel und Verkehr, die Themen, die mich seit Jahre beschäftigen, anders zu sprechen und zu schreiben. Angesichts von Tod und Verheerungen durch Extremwetterereignisse, die vor allem durch den menschengemachten Klimawandel ausgelöst werden, ist es m.E. überfällig, deutlicher die existenzielle Herausforderung zu vermitteln und jene zu benennen, die in Politik und Wirtschaft – aus Unkenntnis oder Vorsatz – solche Entscheidungen behindern, verzögern oder verunmöglichen, mit denen der Klimawandel eingedämmt und soziale Härten gemildert werden kann. Kurzum: Die un-verantwortlich handeln und das Recht auf Unversehrtheit in unterschiedlich schweren Graden verletzen.
Wissenschaftler*innen, Verkehrsplaner*innen und Mobilitätsexperten wie viele andere müssen sich, wie jetzt in der Schweiz geschehen, öffentlich gegen politische Vorhaben und Entscheidungen positionieren, die dem Klimaschutz zuwiderlaufen, ohne die Frage sozialer Belastungen außer Acht zu lassen. Elektronische und Printmedien müssen an einer anderen, konsistenten und dauerhaften Vermittlung des Klimawandels arbeiten und neue Formate entwickeln, die der Komplexität des Themas gerecht werden und zur Verhaltensänderung anleiten. Die aufzeigen, dass jede unserer Entscheidungen und Handlungen fernste Wirkungen hat oder haben kann. Die eine Brücke schlagen über die wachsende Entfernung zwischen unserem Wahrnehmungs- und Wirkungshorizont.
Bildmächtig wird uns schon bald
die nächste Katastrophe überwältigen
Bilderfluten, die uns aus Valencia und anderen Regionen erreichen, bleiben auf Dauer ohne Folgen: Alles Entsetzen und jedes Mitgefühl wird schon übernächste Woche verflogen sein, wenn die nächste hausgemachte Katastrophe bildmächtig über uns hereinbricht. Wo eben noch in Frankreich, Österreich und Slowenien Menschen ihr Leben in ungeheuren Wassermassen verloren haben, wird schon morgen das nächste Extremwetterereignis unser temporäres Entsetzen auslösen.
„Wir haben es mit einer Situation zu tun, die in ihrem Ausmaß noch nicht dagewesen ist“, sagte Frankreichs Ministerin für ökologischen Wandel, Agnès Pannier-Runacher vor gerade mal zwei Wochen angesichts der Flutkatastrophe im Süden des Landes. „Das hat es seit Menschengedenken nicht mehr gegeben.“ Erinnert sich noch jemand?
Die Flut an Bildern lädt uns zum Angaffen ein, schreibt Günther Anders, zur scheinbaren Teilnahme an der ganzen Welt; und zwar umso generöser, je weniger man Einblick in die Zusammenhänge der Welt gewährt bekomme. Weil Bilder im Unterschied zu Texten grundsätzlich keine Zusammenhänge sichtbar machten, sondern immer nur herausgerissene Weltfetzen – „die Welt zeigend, die Welt verhüllend“.
Auch wenn Meteorologen, allen voran Özden Terli, aber auch Sven Plöger, Karsten Schwanke und Thomas Ranft versuchen, die Folgen des Klimawandels zu vermitteln – solange wir das Thema nicht im Kontext unserer Lebens- und Arbeitsweise vermitteln und aufbereiten, wird sich wenig ändern.
Niveau-Verlust und rüder Ton
Was mich am meisten erschrecken lässt: der Verlust an Niveau und Geist und mancher rüde Ton. Wer sich Willy Brandts Rede „Umweltschutz als internationale Aufgabe“ vor Nobelpreisträgern anhört, weiß, auf welchem Niveau einmal argumentiert worden ist.
Der Arbeitskreis „Enkeltaugliche Mobilität“ hat vor fünf Jahren im Rahmen der Reihe „Ethik der Mobilität – wie viel Verkehr können wir noch verantworten?“ die Arbeit am gleichnamigen Papier aufgenommen, um auf Grundlage einer modernen Ethik Mobilität verantwortbar zu machen – auch und gerade für jene, die noch nicht geboren sind und den gleichen Anspruch auf Unversehrt haben wie wir Gegenwärtigen. Dem Arbeitskreis gehörten 2020 Udo Becker, Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Verkehrs-ökologie am Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr an der Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ der Technischen Universität Dresden, Michael Bongardt, Professor für Philosophie, Anthropologie, Kultur- und Sozialphilosophie an der Universität Siegen, Dirk Kannacher, Vorstand GLS Bank, Stefan Rammler, Professor und Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Zukunftsforschung und Technologiebewertung in Berlin, und Jürgen Schultheis, Politikwissenschaftler und Clustermanager Mobility in der House of Logistics and Mobility (HOLM) GmbH, an.