Mobility Design:
Der Mensch im Mittelpunkt

Triste Bahnhöfe, verwahrloste Haltestellen und eine in Teilen vernachlässigte Infrastruktur vor allem im schienengebundenen Personenverkehr sind heute Alltagserfahrungen der pendelnden Beschäftigten nicht nur in ländlichen Regionen. Der Begeisterung für die faszinierenden Möglichkeiten der Digitalisierung steht das merkwürdige Desinteresse für die Lebenswelt des mobilen Menschen gegenüber.

Dabei soll gerade dem öffentlichen Personenverkehr (ÖPNV), der auf diese schienengebundenen Mobilitätsangebote angewiesen ist, eine herausragende Bedeutung bei der Verkehrswende zukommen. Aber warum soll jemand auf die Bequemlichkeit seines Automobils verzichten und sich dieser Tristheit aussetzen, selbst wenn er übers Jahr gerechnet mindestens zwei Wochen im Stau steht? Eine Erkundung und eine Lobrede auf das Buch Mobility Design – Die Zukunft der Mobilität gestalten“.

Umfassend, präzise und analytisch antwortet das Autor*innenenteam um Dr. Kai Vöckler und Peter Eckart, Professoren an der Hochschule für Gestaltung Offenbach (HfG), im 2. Band ihrer Trilogie unter dem Titel „Mobility Design“ auf diese Frage. Während der 1. Band dem Thema „Praxis“ gewidmet war, beschäftigen sich die Autor*innen im 2. Band mit dem Thema „Forschung“. Und diese Forschung ist nicht nur umfangreich – sie gibt auch profunde Hinweise darauf, was notwendig und längst überfällig ist, um dem Subjekt der Verkehrswende – den Menschen – empfänglich zu machen, um sein Mobilitätsverhalten zu ändern.

Und ja, man und frau muss daran erinnern: Es geht zunächst einmal um den Menschen, und in zweiter Linie um Fahrzeuge! In der Einleitung des 2. Bandes heißt es dazu unter der Überschrift: „Forschung zur Gestaltung klimaschonender und nachhaltiger Mobilität“: „Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht stellt sich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Transformation in Richtung Nachhaltigkeit die Frage, wie das Verkehrssystem zu einem ,guten Leben´ beitragen kann – nicht als Erfüllung individuellen Glücksversprechens, sondern als Teilhabe an einem für alle ökonomisch leistbaren und ökologisch wie sozial verträglichen Verkehrssystem.“

Verkehrssystem und gutes Leben

Was Ingenieuren und Technikern seltsam klingen mag, weil ihr Alltagsgeschäft darin besteht, technische Apparturen zu erfinden, ihre Funktionalität zu verbessern und ihre Zuverlässigkeit zu optimieren, hat aus der Perspektive der Phänomenologie eine lange Geschichte. Die Autor*innen des 2. Bandes in der Reihe „Mobility Design“ stehen mit dem von Vöckler und Eckart begründeten Offenbacher Modell in dieser Tradition und der von ihr hervorgebrachten Arbeiten.

 

Prof. Dr. Kai Vöckler, Prof Peter Eckart, Hochschule für Gestaltung, HfG, Offenbach, Jürgen Schultheis, Mobilität, Design.
Prof. Dr. Kai Vöckler (li) und Prof Peter Eckart, beide Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach. Bild: HOLM GmbH

 

Im aktuellen Band haben eine Reihe von exzellenten Expert*innen Beiträge veröffentlicht, unter ihnen Carlo Ratti (MIT), Weert Canzler, Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung (DiMo) am Wissenschaftszentrum for Sozialforschung in Berlin, Andreas Knie, ebenfalls WZB, Stephan Rammler, Gründungsdirektor des Instituts für Transportation Design (ITD) und ehemaliger Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Zukunftsforschung und Technologiebewertung (IZT) in Berlin, und Ole B. Jensen, Professor am Department of Architekture, Design and Media Technology an der Aalborg University.

Design schafft Voraussetzung,
um Mensch und Lebenswelt zu vermitteln

Leitlinie für das Werk ist der Ansatz des Offenbacher Modells: „Mobilitätsdesign gestaltet die Interaktion der Nutzenden mit dem Mobilitätsystem.“ Design vermittelt zwischen Mensch und Mobilitätssystem, optimiert den Zugang und ermöglicht Identifikation. Design, weiter gefasst, schafft die Voraussetzung, um Mensch und Lebenswelt zu vermitteln und Orientierung zu geben.

In der Moderne war Ausgangspunkt für das Nachdenken über Mensch und Mitwelt (Klaus-Michael Meyer-Abich) die Feststellung Edmund Husserls vom Versagen einer rationalen Kultur, vom Verlust der Lebensbedeutsamkeit der Wissenschaft und der damit verbundenen Eliminierung des Subjekts aus ihrer Forschung. Husserl diagnostizierte seinerzeit eine Krise der europäischen Wissenschaften und sah als Auslöser dieser Krise die Mathematisierung der Welt. Seine Antwort war die Entwicklung einer transzendentalen Phänomenologie als wissenschaftliche Methode gegen Skeptizismus und Relativismus und ihrem Schlüsselbegriff der Lebenswelt.

Dominanz des Rationalen

Die Dominanz des Rationalen, das auf Zwecke ausgerichtete Denken, feiert ihre Triumphe in der Technik und der für sie notwendigen Kunst der Berechnung. Die Industrielle Revolution verdankt ihr ihren Erfolg und ist ohne Mathematisierung, Erfindungsreichtum und Technik nicht zu denken. Und der damit gepachtete Wohlstand in der westlichen Welt kaum vorstellbar.

 

Stripes, Ed Hawkins, Climate Change
Temperaturentwicklung in Europa 1901 bis 2021. (Grafik: Ed Hawkins)

Die Sache hat ihren Preis, deshalb die Rede vom gepachteten Wohlstand: Es geht um die Blindheit des falsch interpretierten Rationalen gegen die Ökologie und ihre komplexen Wechselwirkungen, die unser Leben überhaupt erst möglich machen, und um die damit verbundene, inzwischen verheerende Naturzerstörung – Rationalität als organisierte Unvernunft.

 

Jürgen Schultheis, Garzweiler, Klimawandel, Kohleabbau
Kohleabbau in Garzweiler – fossile Energie für die Industriegesellschaft. (Bild: J. Schultheis)

 

Im Verkehrssektor haben zweckrationales Denken und Mathematisierung den Menschen im Begriff des Beförderungsfalls verschwinden lassen – womit die sachliche Differenz zum Stückguttransport gefährlich schrumpft. Die Verkehrsinfrastruktur ist im Regelfall deshalb so geplant worden bzw. wird aktuell so geplant, als sei der Mensch kein Subjekt, das sensitiv seine Umwelt wahrnimmt, kein bildlich orientiertes, fühlendes Wesen, das überhaupt erst als wahrnehmendes Wesen in der Welt ist, bevor sich der erste Gedanke im Kopf entwickelt.

Je eindeutiger sich der Mensch als Zivilisierter versteht, je eindeutiger er sich als Vernunftwesen definiert, desto ferner und unverständlicher ist ihm sein Leib als Natur, schreiben Hartmut und Gernot Böhme in ihrem Buch „Das Andere der Vernunft“.

Lebensgefühl und sinnlich-emotionale Qualitäten der Umgebung

Für Gernot Böhme steht außer Frage, dass „zu einem gesunden, um nicht zu sagen: einem guten Leben (sic!) die Erfahrung einer Umwelt mit bestimmten ästhetischen Qualitäten notwendig ist.“ Er plädiert für eine ökologische Naturästhetik, die darzulegen hätte, „wie das Lebensgefühl eines Menschen durch die sinnlich-emotionalen Qualitäten seiner Umgebung mitbestimmt wird. Das Bedürfnis nach einer schönen Umgebung überhaupt…“

Stephan Rammler nimmt diesen Gedanken im Blick auf das Verkehrssystem der Zukunfrt auf und bringt das Thema in seinem abschließenden Beitrag im 2. Band unter der Überschrift „Transport und Transition: Thesen zur Zukunft der urbanen Mobilität und zur Rolle des Mobilitätsdesigns“ auf den Punkt: „Die Frage nach der Mobilität der Zukunft ist im Kern eine Frage nach unseren Lebensstilen und Bedürfnisniveaus, letztlich nach einem anderen Wohlstands- und Glückskonzept, das sich schließlich auch in veränderten Mobilitätsmustern, Verkehrstechnologien, Siedlungs- und Zeitstrukturen niederschlägt. Die heutige Ökonomie der Verschwendung und Beschleunigung ist ein Überflussphänomen der fossilen Epoche, die uns faul und verschwenderisch gemacht hat.“

Stephan Rammler, Jürgen Schultheis, Mobilität, Verkehr
Prof. Dr. Stephan Rammler (li) zusammen mit Peter Siegert bei der Premiere der Jahreskonferenz „Ethik der Mobilität – wie viel Verkehr können wir noch verantworten?“ 2016 im House of Logistics and Mobility (HOLM):

 

Dieser analytisch umfassende, um ein Modewort zu gebrauchen: holistische Ansatz unterscheidet das Werk durchgängig von jenen Publikationen, die unter den Begriffen und Slogans wie „Autokorrektur“ und „Verkehrsbuch ohne Autohass“ veröffentlicht werden.

Der 2. Band versteht sich als „Beitrag der transdisziplinär ausgerichteten Forschung zur neuen klimaschonenden Mobilität“ und erläutert die Rolle der Designforschung zur Entwicklung multimodaler, umweltfreundlicher Mobilität insbesondere hinsichtlich einer am Menschen und seinen Bedürfnissen ausgerichteten Neugestaltung des Mobilitätsystems auf.

Mobilität als Selbstbeweglichkeit

Mobilität verstehen die Autor*innen als Selbstbeweglichkeit, als individuelle Erfahrung, die in einer Interaktion mit anderen mobilen Personen mit Objekten Informationen Räumen und Infrastrukturen macht. Damit gehen die Expert*innen um Kai Vöckler und Peter Eckart an die Grenze dessen, was kritische und aufgeklärte Mobilitätsforschung heute leisten kann. Ein grundlegendes Dilemma ist damit nicht behoben und kann vermutlich auch nicht behoben werden – obwohl Stephan Rammler, liest man und frau zwischen den Zeilen, einen Hinweis gibt: Es kann – frei nach Adorno – keine richtige Mobilität in einem falschen Verkehrssystem geben.

„Verkehrsforschung heißt weiterhin Dienst an der Beförderungsindustrie.“

Ivan Illich wusste das: Sobald das tägliche Leben von motorisierter Beförderung abhängig wird, beherrscht die Industrie den Verkehr, schrieb der Kulturkritiker und Philosoph Anfang der 70er Jahre. „Verkehrsforschung heißt weiterhin Dienst an der Beförderungsindustrie.“

Das schmälert keineswegs die Bedeutung dieses, auf drei Bände angelegten Werkes. Es regt nicht nur an, es gibt wichtige Impulse für ein neues Verständnis eines Verkehrssystems der Zukunft, das den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt und Mobilität als Alltagserfahrung aufwertet. Für mich gehört es zur Pflichtlektüre für all, die im Mobilitätssektor tätig sind, weshalb die Bände auch Grundlage für meine Arbeit als Clustermanager Mobility im House of Logistics and Mobility (HOLM) sind.

 

Clustermeeting im House of Logistics and Mobility (HOLM) in Frankfurt am Main. (Bild: HOLM GmbH)

In der Besprechung des 1. Bandes hatte ich Hans Boesch, der große Schweizer Verkehrsplaner und Essayisten zitiert. Es ist unvermindert aktuell und zugleich ein Appell im Sinne Vöcklers und Eckarts: „Der Städtebauer gestaltet Orte des Verweilens, der Verkehrsplaner jene des Verkehrens. Eine Zusammenarbeit dieser beiden Spezialisten wird zwar gefordert, aber noch viel zu wenig praktiziert.“

Mobility Design, Die Zukunft der Mobilität gestalten, Band 2: Forschung, Kai Vöckler / Peter Eckart / Martin Knöll / Martin Lanzendorf (Hg.), 256 Seiten, 93 farb. Abb., ISBN 978-3-86859-742-4 12.2022

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