Teil 1: Ein Hilfstransport für die Menschen im Norden Albaniens

Die beiden wohlbeleibten Lastwagenfahrer, die wir bei Mailand auf einer Autobahnraststätte treffen, haben Sinn für Humor: Beim Anblick unserer Kleintransporter, die bis fast unters Dach mit Hilfsgütern bepackt sind, fragt einer der beiden Männer, die den kannten Stern auf ihrem Overall tragen Na geht ihr Safari? Wie jeder gute Witz entbehrt die Bemerkung nicht ganz der Wahrheit. Wir sind unterwegs in das vielleicht letzte Dritte Welt-Land Europas, das über Jahrzehnte im Schatten der europäischen Geschichte lag.

Unser Ziel heißt Albanien, ein Land zwischen dem zerfaAnkündigung der Serie in der Frankfurter Rundschau am Samstag, 25. April 1992.

llenden Jugoslawien im Norden und dem EG-Staat Griechenland im Süden, ein Gebiet zwischen Orient und Okzident, wo Mitglieder von drei religiösen Gemeinschaften bislang ohne Glaubenskämpfe miteinander auskommen. Drei Millionen Einwohner leben in diesem Land: Die meisten Menschen leiden bittere Not, weil es nahezu an allen Gütern des täglichen Bedarfs fehlt.

Hinzu kommt: Fast 80 Prozent der Erwerbsfähigen sind arbeitslos, die Wirtschaft im Lande ist am Boden, die Produktion nimmt stetig ab. Die vom Parlament eingeleitete Landreform, die Acker und Wiesen privatisieren soll und die Nahrungsmittelproduktion in die Hände der alten Eigner legen will, ist ins Stocken geraten. Wovon die Menschen im nächsten Winter leben sollen, ist ungewiß.

Darüber hinaus ist im ganzen Land nahezu kein Brennmaterial mehr zu haben. Die alten Wälder und Alleen sind abgeholzt, für die Ölquellen im Land trägt offenbar niemand mehr Sorge. Vor allem im katholischen Norden des Landes, der in den vergangenen Jahrzehnten besonders hart unter dem kommunistischen Regime des Diktators Enver Hoxha zu leiden hatte, fechten die Männer, Frauen und Kinder womöglich härter als andernorts ihren täglichen Existenzkampf aus. Wir wollen den Menschen dort, in der Region Hani Hotit, Hilfe bringen.

Antrag für ein Visum für die Einreise in die sozialistische Republik Albanien. (Bild: J. Schultheis)

Zur Gruppe, die sich auf den rund 2100 Kilometer langen Weg nach Hani Hotit macht, gehören die vier Organisatoren der Hilfsaktion, Fran (57) und Stella Pepaj (43), Gerd (62) und Claudia Schäffer (43), sowie Bernd Stolper (39) und ich als Mitarbeiter der FR. Am Donnerstagmorgen des 2. April sind wir gegen zehn Uhr in Großauheim losgefahren, über das Frankfurter Kreuz nach Basel, dann durch den Gotthard-Tunnel über Lugano nach Mailand. Etwa 32 Stunden wird diese Fahrt nach San Donaci südlich von Brindisi dauern. Am Samstagabend wollen wir uns dann einschiffen und nach Südalbanien übersetzen.

„Die Armut dort kannst du dir nicht vorstellen“

So bunt die Gruppe ist, so unterschiedlich sind die Beweggründe für die Hilfsaktion: Fran Pepaj kehrt mit dem Transport zum zweiten Male in seine alte Heimat zurück. Der 57jährige Unternehmer ist in Hani Hotit aufgewachsen. Mit 13 Jahren steckten ihn die kommunistischen Revolutionäre ins Lager, aus dem er ein paar Jahre später über Jugoslawien und Österreich nach Deutschland fliehen konnte. Jetzt will er seinen Landsleuten über die schwierige Phase des Umbruches helfen. Die Armut dort“, sagt er, „kannst du dir nicht vorstellen, das gibt’s eigentlich gar nicht mehr in Europa.“

Wie recht er damit hat, werden wir bald erfahren.

Gerd Schäffer, der praktische Arzt aus Großauheim, der das Ende des Zweiten Weltkrieges miterlebt hat, fährt mit zwiespältigen Gefühlen ins Land der Skipetaren. Der 62jährige erinnert sich an die Hilfe des Auslandes nach dem Niedergang des Dritten Reiches. „Jetzt sind die Rollen umgekehrt“, sagt er, „jetzt können wir materiell und ideell zeigen, daß Albanien vom Rest der Welt nicht vergessen ist.“ Ein paar Tage später werden diese Sätze eine aufgebrachte Menge in Hani Hotit zumindest zeitweise beruhigen.

Claudia Schäffer, Schweizer Staatsbürgerin in deutschen Landen, reist mit einem Gefühl der Hoffnung nach Albanien. Die Mitarbeit bei der Hilfsaktion ist für die 43jährige auch das Ergebnis eines bewußten Lösungsprozesses von der gelegentlichen Selbstzufriedenbeit ihrer Landsleute in der Schweiz. Die heile Welt der Schweiz, sagt sie, existiert außerhalb der Landesgrenzen nicht.

Die Menschen glücklich machen vor Ostern

Stella Pepaj, die Italienerin in der Gruppe, will einfach nur ein paar Leute „glücklich machen vor Ostern“. Sie freut sich vor allem über den großen Erfolg der Spendenaktion, die den Menschen in Hani Hotit zugutekommen soll.

Bernd Stolper, der 30jährige Elektromeister, kam im Alter von acht Jahren aus der ehemaligen DDR in den Westen. Dass er in der ersten Zeit auf Spenden des DRK zurückgreifen konnte, hat er nicht vergessen. Jetzt will auch er die Hilfe dort zurückgeben, wo sie am dringendsten gebraucht wird.

Am späten Freitagnachmittag kommen wir erschöpft von der langen Fahrt in San Donaci an. Verwandte und Freunde von Stella Pepaj sind unsere Gastgeber für eineinhalb Tage. Albanien ist den Menschen hier ein lebendiger Begriff. Vor etwa einem Jahr kamen 20.000 Flüchtlinge auf einem schrottreifen Frachter in Bari und Brindisi an.

Die Reisegruppe (v.l.) Claudia Schäffer und ihr Mann Gerd, Bernd Stolper und Stella Pepjy. (Bild: J. Schultheis)

Die Bilder, die dann nicht nur in Süditalien über die Schirme flimmerten, haben hier viele bewegt. Beinahe ebenso viele haben sich damals auf den Weg in die Häfen gemacht, um den albanischen Flüchtlingen zu helfen. Ein Teil jener, die über die Adria kamen, fanden bei den Familien kurzfristig Aufnahme. Die anderen wurden in graderen Gebäuden untergebracht und von den Familien in den Orten versorgt Im 8000 Einwohner großen San Donaci fanden 150 Albaner Unterkunft in einem Haus, das die Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt hatte. Für jeweils einen Tag war eine Familie in der Kommune für die Flüchtlinge zuständig. Doch die alltägliche Hilfe, die nicht nur in San Donaci  gegeben wurde, war offenbar weniger telegen als die prügelnden italienischen Polizisten, die erschöpfte Albaner in die Stadien zurücktrieb.

Tags drauf verlassen wir unsere Gastgeber und fahren mit den beiden Wagen nach Brindisi. Bei der schwierigen und komplizierten Beschaffung der Tickets erleben wir die erste unangenehme Überraschung: Nach Auskunft des Reisebüros ist für den Tag der Rückreise kein Platz mehr für den Kleintransporter auf der Fähre. Wir müssen unsere Pläne ändern.

Nach dem Stand der Dinge werden Fran und Stella Pepaj in einer Woche von Durres aus nach Bari zurückkehren. Der Rest der Gruppe soll mit dem Auto nach Nordgriechenland-fahren und von Igumenitsa nach Brindisi übersetzen. Die Fährnisse einer solchen Reise sind uns an diesem Samstagabend noch nicht bewußt.

Am späten Abend fahren wir die beiden Wagen in den Bauch einer griechischen Fähre. Am anderen Morgen werden wir in Südalbanien an Land gehen.

Im Kreise der Verwandten und Freunde der Pepajs in San Donaci am Abend vor der Überfahrt nach Albanien. (Bild: J. Schultheis)

Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 29. April 1992.