Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 15. Mai 1992
Der „schwarze Dienstag“, wie er später heißen wird, der Tag der größten Krise während der Albanienfahrt, führt uns vor Augen, wie kompliziert und sensibel, wie explosiv und unberechenbar die Lage im Land der Skipetaren, vor allem hier in Hani Hotit ist. Was an diesem Tag und in der folgenden Nacht geschieht, war von niemanden vorauszusehen.
Und mit Ausnahme jener Gruppe von zehn jungen Männern, durchweg Sympathisanten des ehemaligen kommunistischen Regimes, die am Nachmittag als Scharfmacher wesentlichen Anteil an der Eskalation haben, hat wohl niemand Verantwortung für die teilweise unerfreulichen Begebenheiten. Wo Menschen ums Überleben kämpfen, bleibt die Moral meist auf der Strecke. Und daß es zuweilen nur ein kleiner Schritt hin ist zur kriminellen Bereicherung – auch das müssen wir erfahren.
Am Abend zuvor hatten Helfer den Weg zum Haus, in dem die Hilfsgüter gelagert werden sollten, freigemacht. Dann hatte der ungarische Fahrer, ein sympathischer, ruhiger Mann mit imposantem Kugelbauch, den 38-Tonner mit einigem Risiko von der schmalen Straße auf das Grundstück gelenkt.
Ein alter Landsitz als Lager für die Hilfsgüter
Als die Zugmaschine im Morast hängenblieb, packten Dutzende an und drückten den Lastwagen aufs Gelände. Drei Stunden später war der Laderaum ausgeräumt, rund 800 Säcke im ehemaligen Landhaus von Agim Cunmulaj verstaut. Etwa zehn Männer blieben im Haus zurück, um die Hilfsgüter zu bewachen.
Am gleichen Abend hatte Fran Pepaj die Anweisung ausgegeben, daß die Bevölkerung von Hani Hotit nach und nach zum Haus kommen soll, um die Spenden abzuholen. Als die Gruppe am Dienstagmorgen gegen 10.30 Uhr am Haus eintrifft, warten schon ein paar Dutzend Menschen auf die Ausgabe der Kleidersäcke. Die Männer, die nachts die Spenden gesichert hatten, helfen nun bei der Verteilung. Einer von ihnen, ein Blondschopf mit lockigen Haaren, führt die Personenliste. Wer einen blauen Sack am Eingang des Hauses bekommen hat, erhält ein Häkchen hinter seinem Namen. Das Verfahren soll die gerechte Verteilung der Güter garantieren.
Bis zum Nachmittag verläuft alles nach Plan. Nach anfänglichen Schwierigkeiten bei der Organisation erhalten die Menschen – inzwischen sind etwa 150 Männer, Frauen und Kinder vor dem zweistöckigen Haus versammelt – zügig die Spenden. Fran und Stella Pepaj, Claudia und Gerd Schäffer sowie Bernd Stolper haben die Koordination übernommen, während die 15 Helfer die Säcke aus den Räumen vor das Haus bringen.
Der Übertritt der Cunmulajs zum Islam
schafft Sicherheit für die Katholiken im Norden Albaniens
Gegen 15.30 Uhr nimmt die Unruhe unter den Menschen zu. Eine Gruppe von zehn Brüdern, die zur Schar der alten kommunistischen Funktionäre gehören, beschimpft Agim Cunmulaj, den ehemaligen Baron von Hani Hotit, als „Scheiß-Moslem“. Seit 1912 sind die Cunmulajs im katholischen Norden muslimischen Glaubens. Der raffinierte Trick von Luigi Gurakuai ersonnen, dem Führer des Aufstandes gegen die türkische Herrschaft 1911 – sicherte dem Norden die Unabhängigkeit von den Türken bis zum Untergang des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg. Jetzt provoziert die Beleidigung eine Auseinandersetzung zwischen den drei Neffen des alten Barons und den jungen Männern draußen.
Während der alte Baron, psychisch und physisch gezeichnet durch den Lageraufenthalt, in der angespannten Situation in Tränen ausbricht, verliert der jüngste Cunmulaj, der im Haus die Szene erlebt und mit einem K98-Gewehr bewaffnet ist, die Nerven. Aufgebracht will er mit der Waffe vor die Tür. Im letzten Augenblick können ihn die albanischen Helfer aufhalten. Die Gruppe entwaffnet ihn. Einer nimmt das Schloß und die Patronen aus dem Gewehr.
Unruhe und Gerangel bei der Ausgabe der Hilfsgüter
Unterdessen entsteht an der Tür ein Gerangel zwischen den Bewachern des Hauses und einigen Leuten an der Pforte. Der Konflikt, der glücklicherweise nicht weiter eskaliert, kann schnell beigelegt werden. Ein Jugendlicher mit einer Eisenstange, der sich während des Tumultes in den Vorraum des Hauses gedrängt hatte, wird von den Türwächtern, unter ihnen Bernd Stolper, hinausgeworfen. Anschließend bringt der Großauheimer Munition und Schloß in einem unserer Busse in Sicherheit. Die Wächter des Hauses beruhigen schließlich den alten Baron und seinen aufgebrachten jungen Neffen.
Später erfahren wir, daß mindestens ein Verwandter des alten Barons Anweisung hatte, Handgranaten zu werfen, falls Leib und Leben des alten Herrn in Gefahr geraten sollten.
Draußen schlagen derweil junge Männer einen Jugendlichen zusammen. Der rappelt sich mit letzter Kraft auf, läuft zu seinem Eselskarren, um zu flüchten. In der Hektik des Augenblicks und blind vor Panik rast der Vierbeiner mit dem Karren gegen das Haus. Dann erst flüchtet das Gespann in Richtung Straße. Über die Ursachen des Konflikts erfahren wir nichts. Aber der Zwischenfall zeigt die Explosivität der Situation, die im Moment kaum einzuschätzen ist.
Fran Pepajs Ansprache bringt die Menschen zur Vernunft
Um die Gemüter der Menschen zu beruhigen, tritt Fran Pepaj vor das Haus und hält eine Rede. Die Hilfsgruppe, sagt er den Menschen, sei zum ersten und auch nicht zum letzten Male in Hani Hotit. Jeder, der vor dem Haus warte, bekomme seinen Teil an den Spenden aus Deutschland. Außerdem sei eine neue Aktion für den Herbst des Jahres geplant. Falls die Leute aber alles kaputtmachten, komme die Gruppe nicht mehr in die Region. Die Rede zeigt Wirkung: Die etwa 150-köpfige Menge beruhigt sich. Bis zu diesem Zeitpunkt sind etwa sieben Achtel der Kleiderspenden vergeben und die Mehrzahl der Einwohner von Hani Hotit versorgt.
Die Ruhe währt keine halbe Stunde: Während die Säcke weiter verteilt werden, dringen zwei junge Männer zunächst unbemerkt von der Rückseite in das Haus ein. Die beiden, die draußen ihre Komplizen haben, interessieren sich für die amerikanischen Wolldecken. Als die Diebe von den Helfern im Haus bemerkt werden, entsteht ein neuerliches Gerangel. Einen Teil der Decken, die bis zu diesem Zeitpunkt vom Fenster hinausgereicht werden sollten, können die Bewacher retten. Einen kleineren Teil haben sich die Helfer draußen unter den Nagel gerissen. Erneut droht die Lage zu eskalieren. Gerd Schäffer, der bis zu diesem Zeitpunkt den Neffen des Barons beruhigt hat, entschließt sich deshalb, zu den Menschen zu sprechen. Fran Pepaj übersetzt.
Der Arzt aus Großauheim erzählt den Männern und Frauen von der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, die durch ähnliche Not geprägt gewesen sei. Aber die Hilfsgruppe sei nicht nur wegen des Materiellen da. Vielmehr wollten sie vermitteln, daß die Nordalbaner in ihrer Not nicht allein und von der Welt vergessen seien.
Zu diesem Zeitpunkt hören die Versammelten noch ruhig und konzentriert zu. Als Gerd Schäffer schließlich von Großauheim erzählt, einer Gemeinde, die vergleichbar groß wie Hani Hotit sei, empören sich einige Zuhörer. „Ihr lügt“, ruft einer, eine so kleine Gemeinde gibt es in Deutschland gar nicht. Ein anderer fordert „Hör auf, du Arschloch.“
Daß die Kleidung, die gespendet wurde, nicht nur aus dem Überfluß der Deutschen weggegeben wurde und daß es nicht nur Reiche im fernen Wunderland gibt, mag in diesem Augenblick ebenfalls keiner glauben. Und wieder ruft einer: „Alles Lüge.“
Die Lage am Landsitz eskaliert
Während Gerd Schäffer die letzten Sätze spricht, entsteht neuer Tumult im Haus. Jetzt droht die Situation endgültig außer Kontrolle zu geraten. Er und Fran Pepaj ziehen sich deshalb schnell ins Haus zurück, dessen Türe zur Sicherheit der Gruppe von innen verschlossen ist und an der Bernd Stolper wacht. Der Eindringling, der den Tumult verursacht hat und der wie viele an diesem Tag bewaffnet ist, kann schließlich von den Bewachern überwältigt und aus dem Vorraum geworfen werden.
Die anschließende Verteilung der Medikamente, die zunächst zur Ablenkung der Menge geplant war, droht zu einem Fiasko zu werden. Wieder vor der Türe, reißen die Menschen Gerd Schäffer die Packungen aus der Hand.
Eine Fortsetzung der Aktion durch das vergitterte Fenster des Hauses eskaliert ebenfalls. Zwar wissen die meisten, die hier um Packungen kämpfen, nichts mit den Medikamenten anzufangen, doch das zählt wenig. Es gibt etwas zu holen und das allein treibt die Menschen.
Später verlassen die Männer aus Deutschland das Haus, nachdem sich die Lage etwas beruhigt hat. Die beiden Frauen, Stella Pepaj und Claudia Schäffer, hatten sich schon zuvor in Sicherheit gebracht. Am Abend überlegen wir während einer Krisensitzung, das albanische Militär zu Hilfe zu rufen. Der Gedanke wird verworfen, weil dieses Vabanque-Spiel niemand verantworten will.