Das Kasseler Fridericianum hat 2008 eine umfangreiche und sehenswerte Ausstellung über Jerome Bonaparte, den jüngsten Bruder Napoleons, und das Königreich Westfalen gezeigt, das Jerome von 1807 bis 1813 regiert hat. Das aus Territorien verschiedener deutscher Regentschaften gebaute Königreich sollte als Modell eines modernen Staates aufgebaut werden – was Jerome auch gelungen ist. Das Königreich Westfalen war der erste Staat auf deutschem Boden mit einer Verfassung. Die Bürger aber, beeinflusst durch die national-völkische Befreiungsbewegung gegen die Herrschaft Napoleons, haben Jerome trotzdem geschmäht, und die preußische Geschichtsschreibung hat das Königreich später kleingeschrieben. Noch heute bleibt die Stadt Kassel in ihrer Darstellung des Königreichs Westfalen ambivalent.
Bild: Jerome Bonaparte and Catharina of Wurttemberg as King and Queen of Westphalia.
Artist: Francois-Joseph Kinson, (1770-1839) Bild: alamy
Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 22. März 2008
Das Restaurant des Bürgers Méhaut galt im Paris zu Beginn des 19. Jahrhundert als erste Adresse. Mitte August 1807 betraten drei Herren das Restaurant, die gleichermaßen guten Wein und schöne Frauen liebten. Der Abend geriet schnell zu einem Gelage, und als gegen 2 Uhr der Bürger Méhaut die Rechnung über 200 Francs vorlegte, vermochte keiner der Herren zu zahlen. Zwei der Zechkumpane – die Bürger Pigault-LeBrun und Cotelle – waren Méhaut bekannt. Der Dritte, ein hochgewachsener junger Mann, wurde dem Gastwirt als „König von Westphalen“ vorgestellt.
Der Modellstaat
Es ist nicht überliefert, ob sich Méhaut vor Lachen ausschüttete, weil er von einem „westphälischen König“ noch nie etwas gehört hatte. Auf jeden Fall war es aber einer der ersten Auftritte des jungen Jérôme Bonaparte. Sein Bruder, Kaiser Napoléon, hatte den Jüngsten der Familie gerade zum Herrscher eines neuen Staates erhoben, der aus Teilen des Kurfürstentums Hessen, des Herzogtums Braunschweig, ehemals preußischen Gebieten, südlichen Teilen Hannovers und der Residenz- und Hauptstadt Kassel zusammengesetzt worden war. Jérôme sollte über zwei Millionen Einwohner und 30.000 Quadratkilometer herrschen.
Als „König Lustik“ ist Jérôme geschmäht worden, als einer, der nichts anderes als Trinkgelage, Operetten- und Schäferspiele im Sinn hatte und sich in der Nacht gerne mit der Parole ,,Morgen wieder lustik“ von seinem Hofstaat verabschiedete. Jérôme, der Prasser und Luftikus, ein Bruder Leichtfuß, der notorisch Frauen nachstellte und das Geld zum Fenster hinauswarf – das ist das Bild, das von ihm gezeichnet worden ist.
Im Schatten dieser Karikatur blieb das Königreich Westphalen und seine bis dahin beispiellose Modernität auf deutschen Boden lange Zeit nicht mehr als eine unerfreuliche Episode „französischer Fremdherrschaft“. Der „welsche Lug und Trug“ der Revolution wie überhaupt der von Napoléon geschaffene Rheinbund, zu dem das Königreich Westphalen gehörte, war dem deutschen, teilweise antisemitisch aufgeladenen national-romantischen Geist der Befreiungszeit von 1813/1814 stets zuwider.
Statt französischer Reformen wollte man lieber die Nation ins deutsche Mittelalter oder gar in die Reinheit des Urdeutschtums aus dem Teutoburger Wald zurückdrängen“ (Friedrich Engels). Später, nach den deutschen Einigungskriegen von 1864 bis 1871, arbeitete die preußische Geschichtsschreibung fleißig daran, das Reformwerk zugunsten der Reformen von Stein und Hardenberg kleinzumachen.
Einen Modellstaat hatte der Kaiser mit dem Königreich Westphalen schaffen wollen, mit seinem jüngsten Bruder Jérôme an der Spitze. Über den Status des widersprechenden, manchmal vergeblich renitenten Befehlsempfängers ist Jérôme auch als König nicht hinausgekommen.
Als Napoléon nach dem Frieden von Tilsit am 7. Juli 1807 das Königreich gründete, schrieb er Jérôme: „Es ist nicht nötig, dass Sie diese Neuigkeit an die große Glocke hängen. Bei Ihrer Einsetzung in Ihrem Königreich ist es übrigens meine Absicht, Ihnen eine regelrechte Verfassung zu geben, die in allen Klassen Ihrer Völker diese eitlen und lächerlichen Unterschiede aufhebt.“
„Ein Maß an Freiheit, Gleichheit und
Wohlstand, das Deutschland noch nicht gesehen hat“
Im Schutze Frankreichs, hieß es in einem Brief vom 15. November 1807, sollen sich die Untertanen im Königreich ,,eines Maßes an Freiheit, Gleichheit und Wohlstand erfreuen, das Deutschland noch nicht gekannt hat“.
Wie ernst es Jérôme damit war, den alten Patrimonialstaat hinwegzufegen und einen modernen, nach Prinzipien der Rationalität organisierten, souveränen Staat mit einer gegliederten Verwaltung aufzubauen, davon gibt die Ausstellung ,,König Lustik“ im Kasseler Fridericianum einen umfassenden Einblick.
Es ist die bislang größte und aufwendigste Schau in der Geschichte der Museumslandschaft Hessen-Kassel, und was die Kuratoren Arnulf Siebeneicker und Thorsten Smid zusammengetragen haben, ist in diesem Ausmaß bislang einzigartig. Von den 600 Objekten, die das Kuratorenteam didaktisch klug arrangiert hat, kommen allein 400 Stücke aus großen europäischen Museen.
Siebeneicker und Smidt ist es ferner gelungen, aus dem privaten Fundus der Princess Bonaparte Objekte zu beschaffen, die der Öffentlichkeit bislang verborgen geblieben sind. Vor allem aber vereint die Ausstellung Bilder, wie sie seit dem Kunstraub Napoléons 1806 in Kassel nicht mehr zu sehen waren.
Der Kaiser hatte seinerzeit per Kabinettsordre verfügt, die bedeutendsten Werke aus der kurfürstlichen Sammlung nach Paris in das Musé Napoléon zu bringen, dem ehemaligen Louvre. Den herausragenden Teil der Sammlung erklärte der Kaiser zum Privatbesitz seiner Frau Joséphine de Beauharnais, der andere Teil der geraubten Sammlung sollte im Musé ausgestellt werden. Nach dem Sturz Jérômes 1813 gelang es dem wieder eingesetzten Kurfürsten Wilhelm I., mehrere hundert Bilder zurückzuholen. Viele Werke aber gelten heute als verloren oder sind in anderem Besitz.
Ein David taucht auf
Seit kurzem hängen nun Rubens ,,Der Triumph des Siegers“ (1614) und ,,Abraham und Melchisedek“ (1615-1618) für die Zeit der Ausstellung wieder in Kassel. Entdeckt haben die Kuratoren ein Napoléon-Bild des französischen Malers Jacques-Louis David, das im Gegensatz zu den Rubens-Bildern zwar zum Bestand der Museumlandschaft zählt, bislang aber einem unbekannten Maler zugeordnet worden war.
Wilhelm I. hatte Kurhessen despotisch regiert. Sein Herrschaftsgebiet betrachtete er als persönlichen Besitz, sein Vermögen erwarb er unter anderem mit dem Verkauf von Untertanen an die englische Krone, die sie als Soldaten in die Neue Welt schickte.
Nach der Niederlage der Vierten Koalition (Preußen, Sachsen, Russland) 1806/1807 im Krieg gegen Frankreich und Wilhelms Flucht erhielt der neue Staat als erstes deutsches Land eine geschriebene Verfassung. Der Adel wurde zwar nicht aufgehoben, verlor aber alle Privilegien. Jérôme sollte in seinem Königreich eine staatsbürgerliche Gesellschaft ohne geburtsständische Privilegien aufbauen. Die Leibeigenschaft wurde zusammen mit Personalfronen und Gesindezwang abgeschafft, Hand- und Spanndienst aufgehoben und Religionsfreiheit gewährt.
Menschen jüdischen Glaubens erhielten mit der Verfassung die gleichen Rechte und Freiheiten wie die übrigen Untertanen. Die Zunftprivilegien verschwanden, die Untertanen unterlagen einem einheitlichen Steuersystem, ferner wurde die Gewerbefreiheit eingeführt. Die Amtssprache war Französisch und Deutsch. 30.000 Kinder ließ Jérôme kostenlos impfen, es galt allgemeine Schulpflicht. Die Zahl der verbrauchssteuerpflichtigen Waren reduzierte der König von 1700 auf zehn. Vor allem aber wurde der Code Napoléon eingeführt, das bürgerliche Gesetzbuch der Zeit, und mit ihm die Zivilehe.
Friedrich Murhard, einer der Wegbereiter des deutschen Liberalismus, sprach angesichts der fundamentalen Neuerungen von einer ,,Geburt zu einem neuen Leben“, und Hegel schrieb am 11. Februar 1808 angesichts der fortschrittlichen Verfassung an seinen Freund Niethammer: „Die Wichtigkeit des Code kommt aber noch in keinen Vergleich mit der Wichtigkeit der Hoffnung, die man daraus schöpfen könnte, dass auch die ferneren Teile der französischen und westfälischen Konstitution eingeführt würden.“
Verfassung, Code, Proklamationen – all das zeigt die Ausstellung im Fridericianum, das zugleich das erste Parlamentsgebäude in der deutschen Geschichte gewesen ist. Es ist das republikanische Herzstück der Schau, die mit ihren aktuellen Verweisen auf das Grundgesetz und das Bürgerliche Gesetzbuch die Wirkungslinien aufzeigt, die vom Modellstaat Westphalen ausgegangen sind. Fernwirkungen, die sich kaum überschätzen lassen und die – das ist eines der großen Verdienste der Schau – im Kontext der Zeit jenseits einer nationalromantischen oder preußischen Perspektive präsentiert werden.
Ein kluger König – vom Volk verspottet
Der Modellstaat scheiterte am Ende an den Bürgern, die weder das Meter-Maß noch Judenemanzipation und Gewerbefreiheit akzeptieren mochten; an Napoléon, vor allem ihm, weil er für seine Kriege das Königreich Westphalen finanziell und materiell auspresste. Daran hat Jérôme nichts ändern können, auch wenn er in der ersten Phase des Königreichs mit Geist und Herz bei der Sache war und von vielen ausländischen Gesandten am Kasseler Hofe gute Zeugnisse ausgestellt bekam.
König Lustik? Die Kasseler Ausstellung korrigiert diese Karikatur. Sie zeigt einen auch liebenswürdigen, verführerischen, vor allem verantwortungsvollen Regenten mit Mut und militärischem Talent, einen Herrscher, der sich gleichermaßen und das Wohl der Soldaten wie um den Bergbau kümmerte und im Staatsrat über die laufenden Geschäfte gut informiert war. Einen König, der trotz seiner vielen Seitensprünge respektvoll mit seiner klugen und gebildeten Königin Katharina umgegangen ist. Als ihr Vater, König Friedrich von Württemberg, nach dem Sturz Jérômes seine Tochter drängte, sich von Bonaparte zu trennen, gab sie ihrem Vater eine Ohrfeige mit der Bemerkung: „Entweder meinen Gemahl oder den Tod.“
Das Königreich fällt auseinander
Das Königreich ist am 1. Oktober 1813 nach der Niederlage der Franzosen in der Völkerschlacht bei Leipzig untergegangen. Der Staat ist auseinandergefallen, die Ideen und Reformen aber, auf denen er aufgebaut werden sollte, vermochte die ärgste Restauration nicht mehr aus der Welt zu schaffen.
Als Napoleonide hat Jérôme alle seine Brüder und Schwestern überlebt. Seine unehelichen Kinder wiederum hatten Nachkommen, die mit Charles Bonaparte 1908 das Bureau of Investigation und damit den Vorläufer des FBI in den USA gegründet oder mit Lily Braun eine frühe Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin hervorgebracht haben.
Der Gastwirt Méhaut bekam sein Geld doch noch. Der „König von Westphalen“ gab kurzerhand eine wertvolle Uhr in Zahlung – ein Geschenk Joséphine de Beauharnais‘ mit dem kaiserlichen Wappen. Als Napoléon davon erfuhr, stellte er Jérôme in den Senkel. Daran hat sich sein Leben lang nichts geändert.
Jérôme Bonaparte starb am 24. Januar 1860.