Über Klimawandel und Verkehr

Der Klimawandel verändert Europa: Hitzewellen, Niedrig- und Hochwasserstände und andere extreme Wetterereignisse zeigen, dass der Wandel an Dynamik gewinnt. Zugleich erfordert der Klimawandel die umgehende Dekarbonisierung unseres Wirtschaftssystems. Der Verkehrssektor, der heute immer noch so viel Kohlendioxid ausstößt wie 1990, muss in den nächsten Jahren emissionsfrei werden, sofern die Erwärmung des Erdklimas aus plus 1,5 Grad Celsius begrenzt werden soll. Doch Lobbyismus, mangelnde politische Führung und Entscheidungswille und die Fixiertheiten einer auto-orientierten Gesellschaft machen es unwahrscheinlich, das 1,5-Grad-Ziel einhalten zu können.

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Murgang bei Bondo unterhalb des Piz Cengalo

Mitte August dieses Jahres stürzen im Kanton Graubünden mehrere Millionen Tonnen Schlamm und Gestein ins Tal. Der Murgang, wie die Lawine aus Geröll, Schutt und Erdmaterial genannt wird, kostet acht Menschen das Leben und richtet im Dorf Bondo unterhalb des Piz Cengalo enorme Schäden an. Bis Mitte September gehen bei drei weiteren Erd- rutschen am 3600 Meter hohen Berg noch einmal mehr als eine Million Tonnen Schlamm und Gestein nieder.

Die Katastrophe in Graubünden steht für Extremereignisse, wie sie als Folgen des Klimawandels immer häufiger auftreten. Die Alpen, mit 200.000 km² Fläche das größte Gebirge Europas, sind davon in besonderem Maße betroffen. Die mittleren Temperaturen werden bis zum Ende des Jahrhunderts nach Einschätzung des Schweizer Bundesamtes für Umwelt um drei bis fünf Grad steigen. Aber schon heute tauen Dauerfrostböden (Permafrost) jenseits der 2500-Meter-Marke und Hänge rutschen ab.

Hitzewellen und Temperaturrekorde

Sechs bis acht Prozent der Fläche der Schweiz gelten inzwischen als instabil, und längst ist auch der größte Gletscher des Landes, der Aletsch am Fuß der Jungfrau, in Bewegung geraten. Seit 1892 büßt die Eiszunge mit ihrer Gesamtfläche von 82 km² pro Jahr mehr als 20 Meter Länge ein: In jüngster Zeit schmelzen bis zu 50 Meter Eis in zwölf Monaten weg. Glaziologen der ETH Zürich gehen deshalb davon aus, dass bis 2100 nahezu alle Gletscher der Schweiz geschmolzen sind.

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Klimabericht 2017 der World Meteorological Organization (WMO).

Die Alpenrepublik ist nur ein Schauplatz von vielen, an denen der Klimawandel den Planeten und damit unsere Lebensgrundlagen grundlegend verändert. Die vergangenen drei Jahre waren nach Angaben der World Meteorological Organization der UN (WMO) die jeweils heißesten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Etwa 30 % der Weltbevölkerung leben inzwischen in Gebieten mit anhaltenden Hitzewellen. In Städten Südamerikas, Asiens und Europas sind die Temperaturen in diesem Jahr auf 47 Grad Celsius (Cordoba, Spanien), mancherorts sogar auf 54 Grad Celsius (Ahwaz, Iran) gestiegen.

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Hitzewelle in Europa im Jahr 2006. Bild: Giorgiogp2 – CC BY-SA 3.0

Die Temperaturrekorde markieren die vorläufigen Höhepunkte von Hitzewellen, wie sie seit der Jahrtausendwende auch in Europa immer wieder auftreten, etwa in den Jahren 2003, 2010 und 2015. Schätzungen der EU zufolge sind dabei allein in Europa bis zu 100.000 Menschen ums Leben gekommen, davon rund 70.000 Menschen allein im Verlauf der Hitzewelle des Jahres 2003.

In einer aktuellen Studie unter dem Titel „Global risk of deadly heat“ (Juni 2017) haben Wissenschaftler  783 Fälle untersucht, in denen es einen Zusammenhang zwischen großer Hitze und Todesfällen gegeben hat. In der Studie heißt es: „Based on the climatic conditions of those lethal heat events, we identified a global threshold beyond which daily mean surfuce temperature and relative humidity become deadly. Around 30% of the worlds population is currently exposed to climate conditions exceeding this deadly threshold for at least 20 days a year.  By 2100, this percentage is projected to ~ 48% under a scenario with drastic reductions of greenhouse gas emissions and ~ 74% under a scenario of growing emissions.“

Ob Eisschmelze, Hitzewellen, Dürren, Stürme und Überflutungen – für die Extremereignisse spielen vor allem zwei auslösende Faktoren eine Rolle: Der Klimawandel, der mit der Ausbeutung und Verbrennung fossiler Brennstoffe (Kohle, Öl, Gas) und den damit verbundenen Ausstoß von Kohlendioxid geradezu dramatissch wachsen lässt, etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt und die Basis schafft für ein beispielloses Wirtschaftswachstum, und die Übernutzung des Ökosystems Erde und seiner „Dienstleistungen“, die wiederum den Klimawandel forciert.

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Die Leistungen des Ökosystems für das Überleben und Wohlbefinden des Menschen. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Ökosystemleistungen schaffen die Grundlage, um als Menschheit auf der Erde überleben zu können. Zu diesen Services zählen etwa die Bereitstellung sauberer Luft, eine hohe Qualität des Grundwassers, die Fruchtbarkeit der Böden, die Verfügbarkeit über pflanzliche und tierische Rohstoffe und die Bestäubung der Blüten von Obstbäumen und Sträuchern.

80% des CO2 kommt aus Industrieländern

„We are now paying the bill for the industrial age“, hat Jeremy Rifkin, Gründer und Vorsitzender der Foundation on Economic Trends in Washington, beim International Transport Forum der OECD im Mai 2011 in Leipzig gesagt. Die Menschheit stehe angesichts des Klimawandels und der Umweltschäden am Beginn des nächsten großen Massensterbens – es wäre das sechste seit Entstehung der Biosphäre auf der Erde vor etwa vier Milliarden Jahren.

Jährlich werden bei solchen Verbrennungsprozessen von Kohle und Öl etwa für die Strom- und Wärmeerzeugung, aber auch im Transportsektor von Fahrzeugen, die von Diesel- oder Benzinmotoren angetrieben werden, weltweit rund 41 Gigatonnen CO2 emittiert. Die Verursacher sind vor allem die reichen Industrieländer des Westens: sie sind für rund 80% der CO2– Emissionen seit 1751 verantwortlich, während die ärmsten Länder der Welt mit einer Gesamtbevölkerung von 800 Millionen Menschen für weniger als ein Prozent der Emissionen in diesem Zeitraum verantwortlich sind.

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Sondergutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen 2016

„Etwa die Hälfte des seit 1750 emittierten CO2 befindet sich noch immer in der Atmosphäre, die anderen Hälfte wurde wiederum je zur Hälfte vom Ozean und von der terrestrischen Biosphäre aufgenommen“, heißt es im Sondergutachten „Entwicklung und Gerechtigkeit durch Transformation“ des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen aus dem Jahr 2016.

Lag der Anteil des Kohlendioxids in der Atmosphäre im Jahr 1850 noch bei 285 ppm (Anteil CO2 pro Million Luftmoleküle), meldeten Forscher im Juli 2017 knapp 407 ppm. Der Säuregehalt des Meeres wiederum liegt heute um 30% über vorindustriellem Niveau. Ein Wert, wie er seit 300 Millionen Jahren nicht mehr erreicht worden ist.

Der höhere Säuregehalt des Meerwassers beeinträchtigt die Kalkbildung etwa der Flügelschnecke,die für die Nahrungskette im Meer eine wichtige Rolle spielt. Bedroht sind auch die Korallenriffe weltweit, von denen etwa 20% bereits abgestorben und weitere 20% akut gefährdet sind.

Höhere Temperaturen lassen das Eis nicht nur in den Alpen schmelzen: Grönland verliert pro Jahr 200 Gigatonnen seiner kalten Pracht, den Verlust in der Antarktis beziffern Wissenschaftler mit etwa 150 Gigatonnen. Schmelze und die Ausdehnung des Wassers erhöhen den Meeresspiegel, Inselstaaten wie Kiribati oder Vanuatu im Pazifischen Ozean sind längst durch Überschwemmungen gefährdet. Die Meersfluten versalzen auch die Süßwasserquellen.

Ökosystemleistung und Grenzen des Wachstums

Steigende Temperaturen lassen Wüsten wachsen und verknappen das verfügbare Trinkwasser, Ernteerträge sinken und führen wegen steigender Preise etwa zu Hungerrevolten, wie sie 2007 und 2008 in Indien, Pakistan, Äthiopien, Indonesien, Myanmar, Ägypten und Kamerun entstanden sind.

Die Erfahrung des Klimawandels und die begrenzte Regenerationsfähigkeit des Erdsystems zeigen, dass es gerade im Zeitalter der Pleonexie, des vorherrschenden Immer-mehr-haben-Wollens, geboten ist, sich der Grenzen bewusst zu werden, die der Biosphäre und damit auch uns Menschen gesetzt sind. Jenseits von Meinungen, Überzeugungen und Ideologien gibt es ein Maximum für das Ausmaß und die Größenordnung, wie wir die geophysikalischen Ressourcen des Planeten verbrauchen. Den Nachweis führen die Autoren des Millenium Ecosystem Assessments.

Darin, in der notwendigen Abkehr vom „Infinitismus der Moderne“, von der Vittorio Hösle spricht (Philosophie der ökologischen Krise), liegt die mutmaßlich größte Herausforderungen für Wirtschaftssysteme und Gesellschaften, die das vermeintlich grenzenlose Wachstum zum Leitidee erhoben haben. Wer auf diesem Entwicklungspfad weiter geht, könne das „Überleben der Zivilisation und möglicherweise die künftige Existenz des homo sapiens“ bedrohen, heißt es in einem Beitrag eines Autorenteams um den Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen und Will Steffen für die Philosophical Transactions of The Royal Society aus dem Jahr 2011.

Um den Klimawandel zu mildern, haben sich die Staaten auf der Rio-Konferenz 1992 und mit dem Kyoto-Protokoll aus dem Jahr 1997 deshalb verpflichtet, die Treibhausgase zu reduzieren. Die 15. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention hat 2009 in Kopenhagen (COP15) beschlossen, die Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf plus 2 Grad Celsius zu begrenzen. Sechs Jahre später sind die Teilnehmer des G7-Gipfels in Elmau übereingekommen, die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft einzuleiten und die Treibhausgase bis 2050 um 40 bis 70% zu reduzieren (Basisjahr 2010).

3,5 bis 4,8 Grad Celsius wärmer bis 2100?

Die EU strebt auf Grundlage des 7th Environment Action Programme (EAP) bis 2050 eine kohlenstoffarme Wirtschaft und Gesellschaft, eine grüne Kreislaufwirtschaft und ein resilientes Ökosystem als Basis für die Zukunft der Bürgerinnen und Bürger in Europa an. Bis 2050 sollen die Treibhausgase in der Gemeinschaft um 80 bis 95 % reduziert werden (Basisjahr 1990). Ziele, die auch die Bundesregierung in ihrem Klimaschutzplan 2050 für verbindlich erklärt hat.

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Der Klimagipfel 2015 in Paris

Vor zwei Jahren hat die 21. Vertragsstaatenkonferenz in Paris (COP21) darüber hinaus entschieden, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Den Temperaturanstieg auf ein halbes Grad zu verringern, würde die Dauer der Hitzewellen in Entwicklungsländer in der tropischen Zone um etwa ein Drittel verkürzen und die Zahl extremer Hitzewellen um einen Monat im Jahr vermindern. Verringert würde auch die Gefahr, dass Ernten einen geringerem Ertrag erbringen – Preise für Lebensmittel würden dann nicht steigen und Hungerrevolten vermieden.

Doch die Chance, diese Ziele zu erreichen, sind trotz erfolgreicher Konferenzen noch nicht im erforderlichen Maße gestiegen. Weltbank und Weltklimarat haben in den vergangenen Jahren dargelegt, dass die Temperaturen bis zum Ende des Jahrhunderts zwischen 3,5 und 4,8 Grad steigen können, selbst wenn alle Staaten ihre Selbstverpflichtungen erfüllen, die CO2-Emissionen auf Basis der Nationally Determined Contributions (NDCs) zu reduzieren.

Da Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch und damit auch das Ausmaß der Emissionen nicht entkoppelt sind, trägt jeder Zuwachs des Wohlstandes und jede Zunahme der Weltbevölkerung zum höheren Ausstoß von Treibhausgasen bei. Anfang des Jahres hat das International Transport Forum prognostiziert, dass die CO2-Emissionen angesichts der prognostiztierten Wachstum der Weltwirtschaft allein im Transportsektor bis 2050 um bis zu 60% steigen könnten, sofern keine weiteren Gegenmaßnahmen getroffen werden. Selbst Deutschland, einst Musterknabe beim Klimaschutz, wird das 40%-Reduktionsziel im Jahr 2020 vermutlich nicht erreichen. Die Minderung beim CO2-Ausstoß liegt nach aktuellen Schätzungen bei 28,9%.

Verkehrssektor in Deutschland emittiert unvermindert 166 Mio Tonnen CO2 jährlich

Weltweit trägt der Verkehrssektor rund 23% zum CO2-Ausstoß bei, wobei knapp 75% dieses Anteil aus den Auspuffrohren von Autos und leichten Nutzfahrzeugen kommen. In Deutschland liegt der Anteil bei etwas mehr als 18%, in Hessen – einer der Verkehrsdrehscheiben Europas – bei immerhin 36%.

Die Kohlendioxidemissionen des Verkehrrssektors in Deutschland sind mit 166 Millionen Tonnen heute etwa so hoch wie 1990. Dem Industriesektor ist es im gleichen Zeitraum gelungen, die CO2-Emissionen von 283 auf 187 Millionen Tonnen Kohlendioxid zu reduzieren – bei einer Verdoppelung des Bruttoinlandsproduktes.

Zwar ist der Energieverbrauch der Pkw gesunken, mit mehr als 45 Millionen Autos sind heute rund zehn Millionen Fahrzeuge mehr auf bundesdeutschen Straßen unterwegs als 1990. Das ändert aber nichts daran, dass das Ziel gerade wegen mancher Versäumnisse verfehlt worden ist.

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks hat diese Entwicklung Anfang 2016 entsprechend kommentiert: „Die Bereiche Verkehr und Landwirtschaft wurden für den Klimaschutz viel zu lange vernachlässigt. Das kann so nicht bleiben. Verkehr und Landwirtschaft müssen künftig substantielle Beiträge für den Klimaschutz leisten.“ Maria Krautzberger, Präsidentin des Umweltbundesamtes, sagte damals: „Wir brauchen dringend eine verkehrspolitische Zäsur. Dazu gehört unter anderem ein besseres Angebot von Bus und Bahn, mehr Elektromobilität für Autos und Fahrräder und eine Förderung von Fuß- und Fahrradverkehr. Nur so werden wir es schaffen, unsere Klimaziele auch im Verkehr zu erreichen.“

Hontelez: „The German car industry has
apparently succeeded in weakening the proposal“

Die Autoindustrie in Deutschland hat zwar einen Beitrag geleistet, die Emissionen zu reduzieren. Aber die Branche konnte nicht allen Fällen die Selbstverpflichtungen einhalten und hat in Kooperation mit dem Verband der europäischen Autohersteller ACEA seit Beginn der 90er Jahre auch immer wieder versucht, die Grenzwerte und CO2-Reduktionsziele für Pkw zu entschärfen und die Einführung zu verzögern.

Um die Kohlendioxidemissionen von Pkw zu verringern, hatte die EU-Kommission bereits im Dezember 1995 die so genannte Drei-Säulen-Strategie vorgelegt. Zur ersten Säule gehört das Ziel, die CO2-Emissionen von Pkw bis 2005 auf durchschnittlich 120 g/km zu reduzieren [KOM (1995) 689]. Im Kommissions-Papier von 1995 heißt es: „Die momentanen Wachstumstrends in diesem Bereich gefährden die Erreichung der CO2-Ziele der Gemeinschaft.“

Seit dieser Zeit ist es der europäischen Autoindustrie immer wieder gelungen, durch Interventionen in Brüssel die Grenzwerte zu entschärfen („integrierter Ansatz“) oder die Geltung der Grenzwerte in die Zukunft zu verschieben. 2007 hatte die Kommission vorgeschlagen, die Frist auf das Jahr 2012 zu verschieben, um den durchschnittlichen CO2-Zielwert von 130 g CO2/km zu erreichen – 10 g CO2/km mehr als ursprünglich beschlossen. Die Bundesregierung hatte damals massiv und erfolgreich in Brüssel interveniert.

Der Generalsekretär des European Environmental Bureau (EEB), John Hontelez, sagte damals angesichts deutscher Interventionen: „The German car industry, aided by the German Government and a German commissioner, has apparently succeeded in weakening the proposal.“

Im April 2009 hatten EU-Parlament und Rat für 2020 als geltendes Ziel 95 g CO2/km für die Neuwagenflotte festgelegt. Vier Jahre später, im Juni 2013, nahm die Bundesregierung erneut Einfluss und überzeugte die irische Ratspräsidentschaft, die Verbindlichkeit der 95 g-Regel für 2020 vorerst aufzuschieben und später zu entscheiden. Was Anfang 2014 durch Europäischen Rat und Parlament auch geschah: In einer Verordnung legten die Gremien fest, dass von 2020 an 95 Prozent aller neu verkauften Autos, von 2021 an dann für die gesamte Neuwagenflotte ein durchschnittlicher Grenzwert von 95 g CO2/km gilt.

Anfang November dieses Jahres haben es Lobbyisten erneut geschafft, geplante Vorgaben für die Emissionen von Autos abzuschwächen. Statt den Ausstoß wie vorgesehen um weitere 25% bis 2025 und 35% bis 2030 zu reduzieren (Basis 2021), gelten nun 15% bis 2025 und 30% bis 2030. Sanktionen, wie zunächst von der EU-Kommission beabsichtigt, sind nicht mehr vorgesehen für den Fall, dass die Ziele durch die Autoindustrie nicht erreicht werden. Und von einer verbindlichen Quote für Elektroautos hat die Kommission ebenfalls Abstand genommen.

Fabienne Beez hat in ihrer Dissertation unter dem Titel „Politikformulierung und Interessenvermittlung am Beispiel der Festlegung von CO2-Emissionsgrenzwerten für neue Pkw in der Europäischen Union“ die lange Geschichte der vielfältigen Einflussnahmen detailliert beschrieben.

Heute – 22 Jahre nach der Festlegung des 120 g CO2/km-Zieles von 1995 – liegt der durchschnittliche Ausstoß von neu zugelassenen Autos in Deutschland nach Angaben des Kraftfahrtbundesamtes immer noch bei 127,4 g CO2/km (2016). Die Europäischen Umweltagentur gibt für das Gebiet der EU einen Durchschnittswert von 119,5 g CO2 pro Kilometer an.

Ausnahmeregelungen gelten auch bei den Stickstoffdioxid-Werten: Der auf 80 Milligramm pro Kubikmeter festgelegte Grenzwert der Euro6-Norm wird von Dieselautos im Vergleich zu den Herstellerangaben im realen Betrieb durchschnittlich um das 7,1-fache überschritten. Statt Hersteller nun zu verpflichten, den Ausstoß an der Quelle zeitnah zu minimieren, räumt die EU der Autoindustrie so genannte Übergangsfristen ein. Bis 2021 dürfen die NOx-Werte – gemessen mit dem neuen RDE-Testverfahren – um das 2,1fache und nach 2021 noch um 50% überschritten werden.

1,5 Grad Celsius wärmer bedeuten ein Budget
von 200 Gigatonnen CO2 weltweit bis 2100

Will die Bundesregierung ihrer Selbstverpflichtung nachkommen, die Treibhausgase bis 2050 um bis 95% zu vermindern, muss der Verkehrssektor in Deutschland den Kohlendioxidausstoß bis 2030 laut Umweltbundesamt um 40% bis 42% verringern. Zur Erinnerung: Zwischen 1990 und heute liegt der CO2-Ausstoß bei unvermindert hohen 166 Millionen Tonnen Kohlendioxid – wobei der nationale Anteil des Flugverkehrs nicht einmal eingerechnet worden ist.

Wer jenseits von Zieldefinitionen und Bekenntnissen den Ausstoß von Treibhausgasen ernsthaft reduzieren und die Erderwärmung auf erträgliche Maße begrenzen will, steht vor der mutmaßlich größten Herausforderung in der Geschichte der Menschheit. Um das Zwei-Grad-Ziel bis 2100 einzuhalten, dürfen in den nächsten 80 Jahren weltweit maximal 800 Gigatonnen CO2 emittiert werden. Bei einem Plus von maximal 1,5 Grad dürfen nur noch 200 Gigatonnen emittiert werden. Bei aktuell 41 Gigatonnen CO2 wäre das Budget in fünf Jahren verbraucht. Jede Gigatonne mehr würde die Temperaturen bis zum Ende des Jahrhunderts weiter nach oben treiben – mit kaum absehbaren Folgen.

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Great Acceleration, die große Beschleunigung – Die Grafiken zeigen globale Wirtschafts- und Umweltdaten. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) spricht deshalb von einer „historisch beispiellosen Herausforderung“ und fordert als Antwort auf die „Great Acceleration“, die mit der beispiellosen Entfaltung der Produktivkraft nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges voll entfaltet hat, die „Große Transformation“: Die vollständige Dekarbonisierung der Energiesysteme einschließlich des Verkehrssektors, eine klimaverträgliche Stadtentwicklung und ein Wandel der Landnutzung bei gleichzeitiger Minderung des Verlustes von jährlich 15 Millionen ha Wald.

Bislang aber sind die Maßnahmen der Politik auch in Deutschland nach Einschätzung der WBGU „so kraftlos, dass Erderwärmung und Artensterben sich inzwischen in beängstigendem Tempo vollziehen“.

World Scientists´ Warning 2017:
„Humanity has failed to make sufficient progress“

Wie es gelingen soll, Klimaziele einzuhalten und die Große Transformation einzuleiten, ist Aufgabe von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen, weil es nicht zuletzt auch um Verhaltensänderungen der Verbraucher geht. Der Philosoph Vittorio Hösle hat vor bald 30 Jahren in seinen Moskauer Vorlesungen das Risiko benannt: „Die Universalisierung des westlichen Lebensstandards ist nicht möglich, ohne dass die Erde ökologisch vollständig kollabiert.“

Es ist unbestritten, dass COP21 in Paris aus politischer Sicht ein Erfolg war, der 2018 in Warschau durch die verbindliche Festlegung von Minderungszielen (NDCs) beim CO2-Ausstoß noch übertroffen werden kann. Vor dem Hintergrund der selbstgesteckten Ziele und den Anforderungen, die der menschengemachte Klimawandel an uns stellt, sind die Ergebnis allerdings bescheiden.

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BioScience: „World Scientists´ Warning to Humanity.

25 Jahre nach dem Weckruf der Union of Concerned Scientits haben im November 2017 mehr als 15.000 Wissenschaftler aus 184 Staaten – von deutschen Medien weitgehend unbeachtet – die „World Scientists´ Warning to Humanity: A Second Notice“ veröffentlicht. Darin heißt es im Blick auf die damalige Warnung, die Menschheit befinde sich auf Kollisionskurs mit der natürlichen Welt: „Since 1992, with exception of stabilizing the stratospheric ozone layer, humanity has failed to make sufficient progress in generally solving these foreseen environmental challenges, and alarmingly, most of them are getting far worse.“

Die Dekarbonisierung unserer Wirtschafts- und Lebensweise, der weitgehende, wenn nicht völlige Verzicht, Kohle, Öl und Gas zu verbrennen, ist der Schlüssel, um dem Klimawandel halbwegs eindämmen zu können und vom Kollisionskurs mit der natürlichen Welt abzukommen. Dazu sind alle Akteure in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft aufgefordert. Das für den Energiesektor, nicht zuletzt aber auch und gerade für den Verkehrssektor, der in der größten Pflicht steht, die Emissionen zu reduzieren.

Vor diesem Hintergrund ist der Schluss zwingend, dass alles, was die Bundesregierung in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht hat und was die Gesellschaft offenbar bereit ist mitzutragen, angesichts der Herausforderungen fahrlässig wenig ist. Die Erfahrung zeigt, dass manche offiziell Rede über den Klimawandel im politischen Alltagsgeschäft wenig bis kaum belastbar ist und die Betroffenheit, die führende Politiker angesichts des schmelzenden Grönlandeises zeigen, zuhause schnell vergessen ist, wenn Braun- und Steinkohlekraftwerke weiter am Netz bleiben dürfen und die Autoindustrie ein ums andere Mal erfolgreich gegen strengere Abgaswerte zu intervenieren vermag. Gut möglich, dass es der Verbraucher und der mündige Bürger und selbstverständlich auch die Verbraucherin un die mündige Bürgern nicht anders hält.

Am Aletschgletscher (Bild) in den Schweizer Alpen sind unterdessen im Zuge der Erderwärmung rund 150 Millionen Kubikmeter Fels in Bewegung geraten. Das entspricht der 40-fachen Menge des Murgangs am Piz Cengalo Mitte des Jahres.

Die Politik ist offenbar noch nicht ausreichend entschlossen, diese Masse aufzuhalten.

 

 

 

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