Bahndialog

Europa verfügt über das dichteste Bahnnetz der Welt. Diese Infrastruktur birgt erhebliches Potenzial, um das Reisen komfortabler, weniger umweltwirksam und deutlich energieeffizienter zu gestalten. Um diese Potenzial zu heben, bedarf es zwar einer Reihe von Maßnahmen. Die Integration des Schienennetzes muss vorangetrieben werden, die Finanzierung für Sanierung und Ausbau von Bahnstrecken muss überjährig angelegt und bei Regulierungen ein Stopp eingelegt werden. Aber Technik und Prozesse sind verfügbar, um der Bahn eine zentrale Rolle bei der Verkehrswende in Europa zu geben. Mehr noch: Der schienengebundene Personenverkehr in Europa ist eine notwendige Voraussetzung für eine Verkehrswende im Einklang mit den planetaren Belastungsgrenzen. Das sind einige Ergebnisse des 5. Deutsch-Österreichischen Bahn-Dialogs Anfang September in Berlin, den ich als Inhaber des Verkehrskontors moderieren durfte.

Die Bahn in Europa trägt mit nur 0,3% der verkehrsbedingten Emissionen kaum zu den Gesamtemissionen des Verkehrssektors bei, dessen Ausstoß von Treibhausgasen – Basisjahr 1990 – um 25% zugenommen hat (siehe Grafik). 8% der Verkehrsleistung wird im Schienenverkehr erbracht, wobei der Anteil seit Jahren stagniert. Unzureichende Verbindungsqualität im Bahnverkehr, marode Infrastruktur und die Stagnation im Modal Split führt Prof. Dr. Stephan Rammler auch auf mangelnde politische Führung zurück. Es habe in den vergangenen 30 Jahren an einer klaren politischen Hand und an einem Leitbild gefehlt. Deutschland und Europa hätten ferner die Digitalisierung im Bahnsektor verschlafen.

Dennoch sind die Chancen enorm: Die Digitalisierung kann ein Effizienz-Booster sein und bietet enormes Potenzial für Effizienzsteigerung in Automatisierung, Vernetzung und Navigation. Vorstellbar sind KI-basierte Assistenten, die Reisen planen, buchen und abrechnen.

Digitalisierung allein kann ein „morbides System“ aber nicht attraktiv machen. Zuerst müssten grundlegende Betriebsabläufe konsolidiert und die Infrastruktur erneuert werden. Ferner müssten die Risiken der Digitalisierung beachtet werden, alles, was digitalisiert werde, sei angreifbar.  Systemische Komplexität und zunehmende private/staatliche Cyberangriffe erforderten eine hohe Resilienz.

Die Bahn ist die Zukunft nachhaltiger Mobilität und ein europäischer Integrator, sagt Rammler. Eine einzige App für ganz Deutschland wäre wünschenswert, um das System attraktiver zu machen. Das Konkurrenz-Prinzip zwischen Verkehrsverbünden und Gebietskulissen behindere die Entwicklung bislang. Mehr Kooperation auf technologischer und operativer Ebene sei notwendig. Vor allem brauche es „neue Leitbilder und eine aggressive Lobbyarbeit, um politische Unterstützung zu gewinnen“.

 

Um die Qualität des Schienenverkehrs zu erhöhen, müssen eine Reihe von Herausforderungen gemeistert werden. Dazu zählt, die Finanzierung für die Sanierung und den Bau von Bahnstrecken überjährig anzulegen, um Investitionssicherheit zu schaffen. Darauf haben Uwe Neumann (Deutsche Bahn), Kurt Bauer (ÖBB) und der Wissenschaftler Prof. Dr. Stephan Rammler beim ersten Expertengespräch des Bahn-Dialogs hingewiesen, das ich vergangene Woche als Inhaber des Verkehrskontors moderieren durfte.

Es fehle an politischem Willen und einer langfristigen Vision für einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren, um Infrastrukturprojekte beschleunigen und stabile Rahmenbedingungen schaffen zu können. Mängel und Defizite im Bahnverkehr, das „Bahnversagen“ der vergangenen 30 Jahre, interpretiert die Expertenrunde als weitreichendes „Politikversagen“.

Es sei in dieser Zeit zu wenig in die Bahninfrastruktur investiert und zu wenig auf die Ausbildung von Ingenieuren geachtet worden. Planungsprozesse dauerten zu lange. In der Öffentlichkeit müsse ferner Verständnis gefördert werden, dass die Modernisierung von Brücken, Tunneln und die Digitalisierung Zeit und Personal brauchten. Aktuell fehle es aber an qualifiziertem Personal (Ingenieure und Handwerker).

Darüber hinaus behindere mangelnde Standardisierung und Interoperabilität innerhalb Europas, das Angebot auf der Schiene verbessern zu können. Die technische Vielfalt sei ein Problem, es gebe zu viele unterschiedliche Zugsicherungs- und IT-Systeme und Zugflotten, die nur in bestimmten Ländern fahren könnten bzw. dürften.

Die Zulassung von Fahrzeugen dauert nach Einschätzung der Expertenrunde extrem lang, selbst wenn das rollende Material in anderen europäischen Ländern fahren darf. Manchmal seien es unterschiedliche Kleiderhaken in den Zügen, die eine Zulassung behinderten oder unmöglich machten, worauf Kurt Bauer hinweist.

Dies führt dazu, dass die europäische Bahnlandschaft immer weniger interoperabel und der grenzüberschreitende Zug- und Güterverkehr komplizierter wird.

Vorbild Österreich: Die Schiene genießt dort eine höhere politische Wertschätzung, was zu stabileren Investitionen und einer stärkeren Förderung geführt hat. Politik und Eisenbahnverkehrsunternehmen arbeiten dort enger zusammen, was mehr Gestaltungsspielraum für Mobilitätslandschaften und Innovation ermöglicht, im Gegensatz zu starren 15-Jahres-Verträgen in Deutschland.

Vorbild Deutschland: Der DB Navigator, das digitale Self-Check-in und der moderne Fuhrpark im Fernverkehr (ECx von Talgo, ICE) wertet die Expertenrunde als positive Beispiele und als „coole Produkte“. Es gebe Erfolge im Nahverkehr – etwa besseres Zugmaterial, dichtere Verbindungen – als Folge von mehr Wettbewerb im Schienenverkehr.

 

Für eine „nachhaltige“ Mobilität ist die Integration des Schienennetzes in das gesamte Verkehrssystem wichtig: Wer den Klimawandel eindämmen will, muss die Bahn als wichtigen Teil eines integrierten Verkehrssystem begreifen und gestalten. Dabei spielt die „Convenience“ (Bequemlichkeit) eine wichtige Rolle im Personenverkehr, um Angebote niederschwellig und attraktiv zu gestalten, insbesondere wenn Bahnverbindungen in ländlichen Gebieten reduziert werden. Darüber haben Renée Ramdohr (ÖVG), Gerhard Greiter (Siemens Mobility) und Ronald Bieber (DB Systel) in einer Expertenrunde beim Bahn-Dialog vergangene Woche in Berlin diskutiert, das ich als Inhaber des Verkehrskontors moderieren durfte.

Ramdohr, Generalsekretärin der ÖVG, versteht die einzelnen Verkehrsträger, insbesondere die Bahn, als Teile eines europäischen Gesamtsystems. Deshalb seien europäische Übereinkünfte und Vereinbarungen, auch bei Finanzen, essenziell für die Entwicklung. Ein umfassender Verkehrsplan muss laut Ramdohr alle Akteure (Politik, Verwaltung, Infrastruktur, Betreiber, Hersteller) einbeziehen und zusammenführen.

Greiter nennt die Finanzierungssicherheit für die Bahn in Deutschland über die nächsten 15 Jahre großartig. Mit guten Universitäten und Technologien müsse der Fokus darüber hinaus in Zusammenarbeit mit der EU auf der Vereinfachung des gesamten Bahnsystems liegen. Greiter fragte, ob im Bahnsektor groß genug gedacht werde und erinnerte an die Herausforderung, vor die uns der Klimawandel stellt: In der Schweiz etwa führen manche Bauern ihre Kühe wegen Wassermangels nicht mehr auf die Almen.

Einig ist sich die Expert*innenrunde, dass die Digitalisierung im Bahnsektor nur schleppend vorangeht. Allianz pro Schiene hat kürzlich gemeldet, dass bis Ende 2024 lediglich 1,6 Prozent des Bundesschienennetzes mit dem Zugsicherungssystem ETCS ausgestattet worden ist. ETCS (European Train Control System) ist ein zentraler Baustein, um die europäischen Zugsicherungssysteme zu vereinheitlichen und den grenzüberschreitenden Bahnverkehr zu erleichtern.

Zugleich wächst die Spannung zwischen der Notwendigkeit, die Digitalisierung voranzutreiben und die Potenziale und Widrigkeiten des Quantencomputings zu berücksichtigen. Quantenrechner können laut Bieber Verkehr optimieren und auf einem vorhandenen Schienennetz mehr Verkehr ermöglichen.

Wichtig sei aber auch, die Dringlichkeit zu erkennen, sich mit neuen Verschlüsselungstechnologien auseinanderzusetzen, weil es Quantenrechner in naher Zukunft ermöglichen werden, auch komplexe Verschlüsselungen auf digitaler Ebene zu knacken. Das hat Konsequenzen auch für jede Form des automatisierten Verkehrs. Laut Bieber geht es darum, Bewusstsein für die Notwendigkeit der „Krypto-Agilität“ zu schaffen – zu wissen, wo und welche Kryptographie in Zukunft angepasst werden muss.

Notwendig ist aber auch ein neues Narrativ für den Schienenverkehr: Die Politik muss sich stärker hinter die Bahn stellen und deren zentrale Rolle für die Daseinsvorsorge und die europäische Integration anerkennen. Der Appell: Es braucht mehr positive Geschichten über die Bahn.

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