Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 23. Mai 1992
Nebelschwaden liegen am Mittwochmorgen kurz vor 5.30 Uhr im Tal von Hani Hotit. Draußen ist kein Laut zu hören. In einigen Häusern, 500 sind es in der ganzen Region, brennt Licht. Für die Männer, Frauen und Kinder beginnt ein neuer Tag im Überlebenskampf.
Wir sind mit unseren beiden Kleintransportern unterwegs zum alten Haus des Agim Cunmulaj, wo ein Teil der Kleidersäcke und die Nahrungsmittel lagern. Nach den Tumulten des Vortages, die beinahe zur Katastrophe eskaliert wären, hatte die Gruppe am Vorabend beschlossen, angesichts der explosiven Lage die Hilfsgüter ins das Haus unseres Gastgebers, Pjetr Pepaj, zu bringen. Er wohnt mit Frau, Söhnen und Enkeln im etwa zehn Kilometer entfernten Bajzë.
In den späten Abendstunden des Dienstag waren wir noch einmal zum Lager hinausgefahren, um nach den Männern im alten Landhaus zu sehen. Nach den Ereignissen des Tages hatten wir um ihre Sicherheit gefürchtet. Zu diesem Zeitpunkt war nicht abzusehen, ob sich die Scharfmacher und Hetzer vom Tage nicht mit Waffengewalt bedienen würden.
Die Lage ist ruhig – für einen Moment
Auf dem Weg dorthin hatten wir in den Abendstunden den ältesten Neffen des Barons getroffen, einen jungen, eloquenten Mann Mitte 20, der Jura studiert hatte. Die Lage sei ruhig, hatte er uns gesagt. Für unsere Sorge um seine Sicherheit hatte der junge Cunmulaj wenig Verständnis. Er wolle sich von niemanden vorschreiben lassen, wohin er zu gehen habe, hatte er trotzig gesagt und uns damit klarzumachen versucht, daß er sich in dieser gefährlichen Situation nicht beeindrucken läßt.
Zum eigenen Schutz hatte er die beinahe obligatorische Pistole dabei, im geschulterten Rucksack ein paar Handgranaten für alle Fälle mitgenommen. Anschließend waren wir etwas verwundert und wenig beruhigt nach Hause gefahren. Jetzt sehen wir im morgendlichen Nebeldunst das Landhaus näherkommen. Die Nerven sind angespannt. Keiner von uns weiß, was uns dort erwartet. Nach den Zwischenfällen des vorigen Tages und der spürbaren Gewaltbereitschaft plagt uns der Gedanke, daß die Männer hier draußen mit hoher Wahrscheinlichkeit in Lebensgefahr schweben. Als wir am Haus ankommen und die ersten Helfer vor die Türe kommen, atmen wir auf.
Der Bruder des alten Barons stiehlt ein Teil der Hilfsgüter
Die Entspannung hält freilich nicht lange an. Die Bewacher, die uns gestern noch alle Hilfe gegeben hatten, wollen uns plötzlich nicht mehr ins Haus lassen. Unter den Männern, die zur Sicherung der Hilfsgüter zurückgeblieben waren, entdecken wir während der kurzen Wortwechsel den Bruder des alten Barons, Skender Cunmulaj, der in der Nacht, wie wir später erfahren, aus einem 60 Kilometer entfernten Dorf mit unfeinen Absichten angereist war.
Als wir schließlich ins Haus gelangen, wird klar, was in der Nacht geschehen war: Ein Großteil der übrigen Kleidersäcke, etwa ein Achtel der gesamten Lieferung, fehlt. Fran Pepaj will von den Männern wissen, was sich ereignet hat. Doch die Bewacher, die Stunden zuvor mit dem angereisten Skender Cunmulaj kollaboriert hatten, schweigen.
Mit Waffengewalt Zutritt zum Lager verschafft
Erst einen Tag später erfahren wir, was sich von Dienstag auf Mittwoch zugetragen hat: Gegen Mitternacht war der Bruder des Barons mit drei kleinen Transportern am Lager eingetroffen und hatte sich mit Waffengewalt Zugang zum Haus verschafft. Ein paar Männer, die zunächst versucht hatten, Widerstand zu leisten, hatte der Mann im Sinne des Wortes die Pistole auf die Brust gesetzt. Die anderen, vor allem die Mitglieder der eigenen Familie, hatte er mit dem Hinweis beruhigt, er sei schließlich auch Eigentümer des Hauses und angeblich ein Freund von Fran Pepaj.
Ob nun die Argumente Skender Cunmulajs oder die Hoffnung auf Bereicherung ausschlaggebend für die plötzliche Zusammenarbeit waren, läßt sich nicht genau sagen; jedenfalls belädt die Allianz aus Dieben und Bewachern die drei Transporter und lagert den übrigen Teil der verbliebenen Hilfsgüter in andere Räume des Hauses, die dann verschlossen werden.
Einer zumindest deutet an diesem grauen Morgen im alten Landhaus bruchstückhaft an, was sich ereignet hat. Die Spannung zwischen den Männer, die nun das eigene Diebesgut hüten, und uns nehmen zu. Wir entschließen uns deshalb, die übrigen Güter, die Nahrungsmittel und Medikamente so schnell wie möglich aus dem Haus zu bringen. Dreimal pendeln unsere Transporter zwischen dem Landhaus und unserem Stützpunkt, bis die restlichen Güter gerettet sind.
Was übriggeblieben ist, sollen sich die Familien bei Pjetr Pepaj abholen. Den anderen Teil der Güter, die wir dem Landhaus geholt haben, wollen wir selbst verteilen. Als wir das Gelände verlassen, warten die ersten Männer und Frauen bereits auf die Fortsetzung der Verteilung. Sie wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, was sich abgespielt hat.
Im Gehen erzählt Fran Pepaj den Menschen, was sich in der Nacht ereignet hat. Das Feuer ist an die Lunte gelegt. Einen Tag später, am Donnerstag, erfahren wir, was sich am späten Mittwochnachmittag zugetragen hat: Eine Gruppe von 200 Menschen aus der Region stürmt das alte Landhaus und holt sich, was ihnen ohnehin zusteht. Die Diebe und ihr Anführer Skender Cunmulaj können der aufgebrachten Menge offenbar nicht standhalten. Die Bombe war geplatzt. Bei uns löst die Nachricht unglaubliche Freude aus.
Treffen mit der Leitung der neu gegründeten Christdemokratischen Partei Albaniens
Am Freitag fahren wir nach Shkodër, der alten Handelsstadt im Norden. Vor mittags treffen wir die Leitung der vor eineinhalb Jahren gegründeten Christdemokratischen Partei. In einem alten Kloster haben die Männer ein vorläufiges Zuhause gefunden. Es sind zwei Räume, in denen die Parteimitglieder versuchen, die Arbeit zu koordinieren und für die erste demokratische Regionalwahl im Juli Werbung zu machen.
Die Bedingungen für einen erfolgreichen Wahlkampf sind schlecht: Es fehlt an Papier und Schreibmaschinen, an einer Druckmaschine für Flugblätter oder eine Parteizeitung. Noch immer
sind die Christdemokraten den Schikanen des alten und manchmal leidlich intakten Apparates ausgesetzt. Bei der Verteilung von Wahlkampfhilfe, die von der neuen Regierung unter Salih Berisha gewährt wird, sind die Christdemokraten bislang leer ausgegangen. Außerdem riskieren die Parteimitglieder ihren Job: Zwei Tage, nachdem wir mit dem Vorsitzenden der albanischen CDU gesprochen haben, verliert George Kasarosi seinen Arbeitsplatz.
Anschließend fahren wir zur katholischen Kirche in Shkodër und überbringen den Priestern eine Geldspende in Höhe von 1500 Mark und einen Prunkbecher. Die anderen 1500 Mark sollen an die Franziskaner in der Stadt weitergeleitet werden.
Am Mittag sind wir zu Gast im Hause des Prinzen von Gjonmarkaj. Die Familie kommt aus der Mirditë, einem Gebirgszug südöstlich von Shkodër. Die Gjonmarkajs führten lange Zeit die fünf Unterstämme in der Region, die Oroshi und Fandi, die Spaçi, Kushneni und Dibrri. Nach der Revolution verloren die Adligen Macht und Einfluß, nachdem ihre antikommunistische Widerstandsorganisation im Kampf gegen die neuen Herren unterlegen war.
Gjohn Gjonmarkaj, der Kopf der Familie, kam wie viele erst vor wenigen Wochen aus dem Lager zurück. Jetzt begrüßt er uns in seinem, für die Verhältnisse geräumigen Haus. Im hellen, mit kleinen Teppichen ausgelegten Wohnzimmer treffen wir neben der Mutter des Hausherrn eine alte Freundin der Gjonmarkajs, Frieda Sadeddin. Die Frau im Seniorinnenalter spricht fließend deutsch und erzählt mit souveräner Geste von ihrem Aufenthalt in Wien Ende der 20er Jahre.
Später sprechen wir über die politische Situation im Lande. Daß ein König Albanien eines Tages wieder regieren könnte, will sie nicht ausschließen, auch wenn sie darüber kein eindeutiges Wort verliert. Immerhin arbeiten die Mitglieder der Monarchisten-Partei (Legalitet Party) derzeit an einem Referendum über die künftige Staatsform Albaniens.
Der Sohn des alten Königs, der bislang in Südafrika und Frankreich Zuflucht gefunden hatte, will in nächster Zeit ins Land zurückkommen. Er aber, sagt Frieda Sadeddin, hat kein Charisma wie es sein Vater noch hatte.“ Und wenn einer kommen würde, der Autorität und Ausstrahlung hätte? Die Frage bleibt unbeantwortet.
Der letzte Stop des Tages ist die Kinderklinik von Shkodër, das Vorzeigekrankenhaus in der Region. 280 Betten hat das Haus. Die Station, die wir besuchen, wird von Zymer Kurti geleitet. 54 kleine Patienten, die unter Lungenentzündung, Bronchitis, Anämie und Rheuma leiden, hat der 43jährige Arzt zu betreuen.
Von Behandlung kann freilich keine Rede sein. Es fehlt an Medikamenten, um die Kleinen heilen zu können. Die meisten, vor allem Babys, liegen deshalb apathisch in ihren Betten. Die fahl-gelbliche Hautfarbe der jungen und jüngsten Patienten ist ein deutlicher Hinweis auf ihren Zustand: Die Kinderstation des Vorzeigekrankenhauses ist mehr eine Sterbe- als eine Pflegestation.
Am Abend kehren wir nach Bajzë zurück. Wir sind psychisch und physisch erschöpft: Die Intensität der Eindrücke und die Erfahrungen in der Region haben beinahe alle Kraft gekostet. Albanien, das wissen wir, die wir zum ersten Male hier sind, ist die vielleicht größte Herausforderung für die Industrieländer in Europa.
Und die Uhr läuft rasend schnell ab: Wird den Menschen nicht bald der Weg in Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit geebnet, könnte das Land im Chaos versinken. Wir sind pessimistisch und denken an die schwierige Heimreise am frühen Sonntagmorgen.