Teil 4: Abgemagerte Schafe
suchen im Gestrüpp nach Futter

In Ballaban ist Bauernmarkt an diesem Sonntag: Gegen Mittag kommt unser kleiner Konvoi in das Dorf, das im Süden Albaniens zu den größeren Ortschaften gehört. Hunderte von Menschen stehen entlang Straße zwischen dem Dutzend Häuser, die hier wie überall im Balkanstaat in schlechtem Zustand sind. Oft müssen die steinernen Hütten mit ihren ein oder zwei Räumen zwei oder drei Familien Platz bieten und manchmal drängen sich noch mehr Personen auf wenigen Quadratmetern Fläche zusammen.

Unter den ersten warmen Sonnenstrahlen bieten die Bauern, die aus der Umgebung nach Ballaban gekommen sind, Kühe, Schafe, Lämmer und Hühner zum Kauf an. Tiere sind neben den Äckern und Wiesen, die jetzt wieder in private Hände gegeben werden sollen, der einzige Reichtum der Albaner, sofern das Wort in der gegenwärtigen Misere noch seinen Sinn hat.

Hier hat es eine andere Bedeutung: Wer seinen Tisch ein oder zweimal am Tag mit ein wenig Brot decken kann, gehört zu der Gruppe Menschen, die in dieser Zeit der äußersten Not ein einigermaßen sicheres Leben führen können.

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Kinder am Straßenrand. (Bild: J. Schultheis)

Wir verlassen das Dorf und fahren weiter in Richtung Norden. Das karstige Gebirge erreicht hier Höhen von bis zu 2500 Metern. Spärliche Vegetation steht an den Hängen, der karge Boden der Täler auf dem südalbanischen Hochplateau gibt nur wenig her. Entlang der schmalen, mit Schlaglöchern übersäten Straße, die sich in ungezählten Kurven zu den Pässen hinaufwindet, versuchen die abgemagerten Kühe und Schafe wenigstens ein paar grüne Grashalme zu finden. Manchmal wühlen sich kleine Schweine auf der Suche nach Freßbarem durch den Morast der Straßengräben. Bäume sucht der Reisende hier wie überall im Lande vergeblich.

Büsche und Gestrüpp wachsen an den Hängen, hier und da ein kleines, knorriges Bäumchen. In der Tiefebene trotzen gelegentlich Olivenbäume auf den Feldern dem rauhen Klima, aber das ist die Ausnahme. Die unwirtliche Landschaft des südalbanischen Hochplateaus und die weiten Tiefebenen im mittleren Teil des Landes, die rechts und links noch in Sichtweite von Bergketten eingegrenzt werden, sind das Sinnbild des Landes: Eine rauhe und spröde, vor allem aber arme Gegend, in der die Menschen ums Überleben kämpfen müssen.

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Karge Landschaft im Albanien Anfang der 90er Jahre. Um Heizen zu können, habe viele Albaner einen Großteil der Bäume gefällt. (Bild: J. Schultheis)

Eine Landschaft aber auch, die einst von Wäldern und Wiesen geprägt war, und die heute, nach der jahrzehntelangen Ausplünderung durch den Menschen, beinahe ebenso am Ende ist wie die Albaner, die in und von ihr leben. Wo Bäume am Straßenrand – und das ist selten – haben die Menschen die Rinde rundum abgezogen. Auf diese Weise dörren die alten Riesen langsam aus. Das Holz brauchen die Menschen zum Heizen ihrer Behausungen. Denn die Winter sind kalt in den Bergen Albaniens und Brennmaterial ist knapp wie das Brot zum Essen.

Immer wieder sehen wir Kinder an den Straßen. Es sind überwiegend Jungen, in Hemden und Hosen, die nur noch Lumpen zu nennen sind, die Gesichter schmutzig, manchmal von Falten gezeichnet. Sie haben Hunger und hoffen auf Hilfe, als sie unsere beiden Wagen sehen. Dann laufen sie los, führen dabei ihre Hand immer wieder zum Mund und schreien etwas, was wir im Wagen nicht verstehen.

Schlimmer als die Not, die wir in den ersten Stunden in diesem fremden Land sehen und die sich mit jedem Kilometer für uns zum Alpdruck entwickelt, lastet die namenlose Verzweiflung, die Wut und die Enttäuschung der Kleinen auf uns. Diese jungen alten Gesichter, aus denen nicht die Sorge um den nächsten Tag spricht, sondern die Existenznot des Augenblicks, der in der Not unendlich lange zu währen scheint.

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Neben Nahrungsmitteln ist es Kleidung, die den Menschen in Albanien Anfang der 90er Jahre am meisten hilft. (Bild: J. Schultheis)

Zwischen dem Elend draußen und dem Entsetzen hier drinnen, zwischen arm und reich, ist nur die dünne Blechwand unseres Kleintransporters; tatsächlich treffen hier zwei Welten aufeinander, die ebenso fremd wie verschieden sind. Und die Brutalität der Konfrontation zwischen deutschen Helfern und ihrer Ohnmacht und den Einheimischen hier, für die es ums Ganze geht, nagt an unseren Nerven. Die Gruppe aus Großauheim, die nach Hani Hotit im Norden Albaniens unterwegs ist, kann nicht jedem Kind, nicht jeder Familie hier helfen. Aber Hilfe wäre überall, in jeder Hütte nötig.

Auf halber Strecke nach Tirana zwingt ein Reifenschaden an unserem Führungsfahrzeug zu einem Zwischenstopp. Während die Männer das Rad wechseln, nähert sich von der gegenüberliegenden Straßenseite ein etwa sechs- bis achtjähriger Junge unserem Wagen. Still kommt er auf uns zu, Schritt für Schritt, vorsichtig bis wenige Meter an die Autos heran. Dann bleibt er schweigend stehen, womöglich gewarnt von Mißtrauen und Vorsicht.

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Landarbeit in Albanien Anfang der 90er Jahre. (Bild: J. Schultheis)

Stoppelkurze Haare hat er, eine von Wind und Sonne gebräunte Haut. Mit beinahe ausdruckslosem Gesicht blickt er uns an. Wie fast alle Kinder hier ist er barfuß. Den Leib wärmen ein paar löchrige Lumpen. Unter dem verschmutzen Pullover trägt der stumme Kleine ein Unterhemd, dessen Löcher von ein paar Stoffetzen zusammengehalten werden.

Während unsere Begleiter den neuen Reifen montieren, sucht Stella Pepaj für den jungen Besucher ein paar Klamotten zusammen. Dann zieht sie unserem Gast, der erst auf nachhaltiges Drängen hin zu uns herangekommen war, die schmuddeligen Stoffe vom Körper. Der Junge schweigt noch immer und blickt die fremden Besucher fragend an. Als er die neuen Sachen sieht, bekommt sein Gesicht ein unvergleichliches Strahlen. Kein Wort kommt über seine Lippen, und später wird uns bewußt, daß dieser Junge taubstumm ist.

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Ein alter Friedhof im Norden Albaniens. (Bild: J. Schultheis)

Wir lassen ihn mit ein paar Sachen und wenigen Früchten zurück. Im Rückspiegel sehen wir noch, wie er sich eilends nach Hause aufmacht. Er hat für den Augenblick ein wenig Glück gehabt.

Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 5. Mai 1992