Teil 3: Hunger, Scham
und Hass in den Augen der Kinder

Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 2. Mai 1992

Das Militär hat den Hafen von Sarande abgesperrt: Stacheldraht und bewaffnete Soldaten sollen die Menschen von der Anlegestelle fernhalten. Sie sind trotzdem gekommen und warten obem am Straßenrand hinter einer kleinen Mauer auf die Ankommenden. Wer hier seinen Fuß an Land setzt, kommt aus einer anderen Welt, die viele Albaner anzieht. Die meisten haben den Glauben an die Zukunft des eigenen Staates verloren. Und bislang hat es keine Partei verstanden, diesen Glauben zu wecken. Ein knappes Drittel aller Menschen möchte lieber heute als morgen die Konkursmasse des Hoxha/Alia-Regimes verlassen, sagt uns ein paar Tage später der stellvertretende Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Partei des Landes, die im überwiegend katholischen Norden ihr Zentrum hat.

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Heruntergekommene Industrieanlage in Albanien. (Bild: J. Schultheis)

Kurz nach dem Verlassen der Hafenanlage bekommen wir die Not dieser Menschen zu spüren. Wo die Straße breiter wird und zu einem kleinen Platz hinabführt, keine 100 Meter vom Absperrzaun des Zollgebietes entfernt, sitzen die Kinder und warten auf Reisende. Aus den Gesichtern dieser kleinen, oft in Lumpen gekleideten Jungen schreien uns Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Existenzangst lautlos an. Es sind hagere Gestalten, die plötzlich auf uns zu rennen und uns mit einer Geste bedeuten, was sie von uns wollen. Noch im Laufen führen sie die rechte Hand immer wieder zum Mund.

Kampf um ein paar Bonbons

Plötzlich haben sich fünf, sechs Jungen an der Fahrertür unseres blauen Transporters festgekrallt und schreien nach Eßbarem. Die Situation droht zu eskalieren, als ein Junge den Halt verliert und beinahe unter die Räder kommt. Schließlich springen die anderen Kinder mit ein paar Bonbons ab. In ihren Gesichtern, die im Rückspiegel langsam kleiner werden, spiegeln sich namenlose Trauer und Wut. Sie gehören zu den schwächsten Gliedern dieser Gesellschaft, die nicht einmal mehr fähig scheint, die Kraft zum Leben aufzubringen.

Im Auto herrscht nach diesem ersten Zwischenfall äußerste Anspannung: Die albanische Gegenwart hat uns keine Zeit zum Eingewöhnen gelassen. Der erste Schock sitzt uns in den Gliedern. Vor uns liegen knapp 400 Kilometer Landweg nach Bajzë im Norden, unweit der Grenze zu Jugoslawien. 400 Kilometer Strecke, die gesäumt sind von diesen Kindern, von Jungen und Mädchen, für die jedes ausländische Auto Hoffnung auf Überleben bedeutet.

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Diesel tanken auf dem Weg in den Norden Albaniens: Ausreichend Treibstoff für die 400 km lange Strecke nach Hani Hotit mitzuführen, war ein Erfolgsfaktor für die Unternehmung. (Bild: J. Schultheis)
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Ein taubstummer Junge am Straßenrand.
(Bild: J. Schultheis)

Die Straße stadtauswärts führt hinauf zu einem kleinen Hügel. Links und rechts des Weges begegnen uns Menschen, die in einem besseren Zustand sind als die Kinder am Hafen, die wir erst wenige Minuten zuvor hinter uns gelassen haben. Abgetragene, in der Regel schmutzige Hosen, Jacken und Kleider sollen die schmächtigen Körper warm halten. Während eines kurzen Zwischenstopps, bei dem wir auf unseren Lotsen warten, der uns durch das Land in Richtung Norden bringen soll, kommen mehrere Männer mit einem kleinen Jungen auf uns zu. Es ist eine schweigende Prozession der Verzweiflung.

Wenige Meter vor uns bleibt die kleine Gruppe stehen und schaut uns stumm an. In den Gesichtern steht vorsichtige Neugierde, doch ihre Zurückhaltung, vielleicht auch Scham, läßt sie nicht näherkommen. Während wir auf unseren Fremdenführer warten und in der Bucht von Sarandë die Valetta“ in Richtung Igumenista abfahren sehen, holt Stella Pepaj für den Kleinen ein paar Bonbons. Der nimmt die kleinen Lutscher und steckt sie, noch ehe es jemand verhindern kann, mit der Verpackung in den Mund. Wo Schokolade, Ananas oder Bananen nahezu unbekannt sind, fehlt den Menschen die Erfahrung mit exotischen Gütern.

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Stella Pepaj kleidet den taubstummen Jungen ein. Im Bild links Bernd Stolper, rechts Rrok Pepaj. (Bild: J. Schultheis)

Etwa eine Stunde später fahren wir mit den beiden Kleintransportern weiter. Nachdem wir einen Hügel überquert haben und der schmalen Straße in ein kleines Tal hinab folgen, erwartet uns die nächste Überraschung. Zwei Polizisten, die an der Straße den spärlichen Verkehr kontrollieren, halten uns an und verlangen die Papiere. Nachdem der Jüngere von beiden einen Blick in die Reisepässe geworfen und dabei aufmerksam die Visa überprüft hat, verlangt er Fahrzeugschein und Fahrerlaubnis.

Deutsche Führerscheine werden in Albanien nicht akzeptiert

Bei der Prüfung der Führerscheine kompliziert sich die Situation, denn die albanische Polizei akzeptiert nur die europäische oder internationale Fahrerlaubnis. Nach einigem Hin und Her dürfen wir schließlich weiterfahren. Die Gruppe atmet auf: Vor uns liegt eine Strecke, von der wir nicht wissen, was sie an weiteren Überraschungen bereithält.

Keine fünf Minuten später sehen wir vorne auf der nur mäßig befestigten Straße drei Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren. Beim Näherkommen entdecken wir die notdürftig eingerichtete Sperre.

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Eine Mutter mit ihren beiden Kindern erhält auf dem Weg nach Hani Hotit gespendete Kleidung, die wir aus Deutschland mitgebracht haben. (Bild: J. Schultheis)

Während die Kinder auf unseren Wagen zu rennen und mit der bekannten Geste Nahrungsmittel verlangen, soll ein über die Straße gespanntes Drahtseil unsere Fahrt aufhalten. Gerd Schäffer, der Fahrer an diesem Vormittag, rollt langsam auf die Kinder zu, die nur noch wenige Meter entfernt sind. Das Seil schiebt sich jetzt über die stark geneigte Front des Wagens, was den Zorn der drei nur noch steigert. Schließlich greift der Älteste, der von uns am weitesten entfernt ist, nach einem Knüppel.

Damit springt er vor unseren Wagen und versucht mit seiner hölzernen Waffe, die Fahrt unseres Autos zu stoppen. Für einen Augenblick kommt er mit Gesicht der Frontscheibe nahe, und wir sehen den Haß, den er sprüht, weil wir uns nicht aufhalten lassen wollen und dürfen.

Kinder in Nordalbanien. (Bild: J. Schultheis).

Der Weg nach Bajzë und Hani Hotit ist weit, und wer nachts auf albanischen Straßen unterwegs ist, riskiert leicht sein Leben, sagen uns später Einheimische. Die Kinder lassen wir zurück, wie so oft auf diesem Weg, der zu einem Trip durch das albanische Elend der Gegenwart wird.