Anfang Juni hat Radu Cretan Geburtstag gefeiert. 35 Jahre alt ist der Mann geworden, den ein Geschäftspartner in Schwerin als „sympathischen und sportlichen Typ“ beschreibt. Doch wer dem in Rumänien geborenen Mittdreißiger gratulieren wollte, hatte Pech. Seit Wochen vermag niemand zu sagen, wo sich der Händler und seine in Hannover geborene Frau Charyl Schmidt aufhalten.
Titelbild: Fässer mit alten Pestizide in einem Zug im Bahnhof von Bajze.
Im Bild links Stationschef Agron M. Ramadani und ein Mitarbeiter. (Bild: J. Schultheis)
Das Im- und Exportgeschäft für Spielkarten und Lederwaren, das beide am 1. Dezember 1986 der Landeshauptstadt angemeldet haben, ist kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres aufgelöst worden. Und seit das Ehepaar den privaten Telefonanschluß Mitte Mai abgemeldet hat, klingelt in der Wohnung an der Hamburger Allee auch kein Apparat mehr.
Mancher freilich würde dieser Tage gerne mit Radu Cretan ins Gespräch kommen. Die Staatsanwaltschaft in Rostock beispielsweise, die sich seit vergangenem Herbst für die Geschäfte Cretans interessiert. Undichte Behälter mit Pestiziden auf dem Güstrower Bahnhof hatten Gesetzeshüter im Herbst auf die Spur gebracht. Vor Ort entdeckte die Polizei 15 Waggons mit 20 Tonnen Pflanzenschutzmitteln.
450 t Pestizide hat Cretan nach Albanien verschickt
Inzwischen weiß nicht nur die Staatsanwaltschaft, daß die dubiosen Handelswege des Spielkartenhändlers bis nach Albanien führen. 450 Tonnen Pestizide, die in Deutschland seit 1. Januar 1993 weder verkauft noch verwendet werden dürfen, hat Cretan bis zum November vergangenen Jahres in das Land der Skipetaren verschickt. Substanzen, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist und die nur als Sondermüll behandelt werden können, verseuchen in der Nähe des nordalbanischen Bajze seit Monaten den Boden. Die Rostocker Staatsanwaltschaft ermittelt nun wegen Verdachts auf Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz und gegen Umweltschutzbestimmungen.
„Die Leute, die das gemacht haben, müssen sich so schnell wie möglich vor dem Gesetz verantworten“, fordert Dode Kaçaj, Abgeordneter der Demokratischen Partei (PD) in Tirana. Kaçaj vertritt den Distrikt Malsia, wo seit dem 6. März 1992 17 Waggons mit 192 Tonnen Pestiziden auf der Gleisanlage von Bajzë stehen.
Dode Kaçaj (PD): „Die Giftfracht ist eine nationale Katastrophe“
Während einige Beamte in der Stationsverwaltung des Ortes mit Sarkasmus auf die chemische Zeitbombe reagieren – „das bringt uns Albaner auch nicht mehr um“ – nennt Kaçaj die Giftfracht eine nationale Katastrophe. Das ist kaum übertrieben angesichts der Tatsache, daß weiterer Giftmüll in den Städten Shkoder, Durrës, Luzhnje und Milot lagert.
Mancherorts tropft, wie in Güstrow geschehen, konzentriertes Pflanzenschutzmittel aus den angerosteten Behältern ins Erdreich. In Bajzë beispielsweise sind es 25-Liter-Fässer mit dem Pestizid „Doruplant“. Das Mittel, das bei 1660 mg/kg Körpergewicht Ratte“ tödlich wirken kann, sickert hier stetig in den Boden. Mitarbeiter der Bahnhofsverwaltung haben vergeblich versucht, den Giftstrom aus den rostbraunen Waggons der Deutschen Reichsbahn mit Pappe aufzuhalten.
Gefahr droht auch durch die sommerliche Hitze: Das feuergefährliche Produkt ist vor „direkter Sonneneinstrahlung und Temperaturen über 30 Grad Celsius zu schützen“, heißt es in der Gebrauchsanweisung. Anfang Juni steigt das Quecksilber der Thermometer im Norden des Landes aber leicht über die Grenzmarke, zumal die Güterwagen die Hitze wie Öfen speichern.
Neben „Doruplant“, das im ehemaligen VEB Bitterfeld hergestellt worden ist, bergen die Waggons weitere Mittel wie „Faluron-Kombi“ (VEB Fahlberg-List, Magdeburg) oder „Milbol EC“ (VEB Delicia, Delitzsch). Aufdrucke auf den Behältern und Säcken zeigen, daß die Mittel zwischen Mai und Oktober 1989 abgepackt worden sind. Bei einer Haltbarkeit von 24 bis 30 Monaten waren die Produkte bereits bei Ankunft in Bajzë zum Teil wertlos.
Ein Teil der in Albanien lagernden Pestizide kommt aus den Vorratshallen des ehemaligen VEB „Materiell-Technische Versorgung der Landwirtschaft“ Schwerin. Am 1. Juni 1990 war daraus die Schweriner Landhandel GmbH entstanden. Reinhard Rehse, Gründer der Firma, leitete den Betrieb als Geschäftsführer, bis die Landhandel GmbH am 1. Juli 1991 in die Nordkorn Großhandel umfirmiert wurde.
Weil die alte DDR-Regierung vor Engpässen in Katastrophenfällen vorsorgen wollte und die VEB zudem gezwungen waren, die Industrieproduktion an Pestiziden abzunehmen, hatte Rehse „Bestände im Lager, die mit kaufmännischen Grundsätzen nicht zu vereinbaren waren“. Im Herbst 1991 trat nach Auskunft Rehses der Hannoveraner Spielkartenhändler Radu Cretan an ihn heran und fragte, „„ob ich Probleme hätte mit großen Beständen, die nicht absetzbar seien“.
Radu Cretan kooperiert mit
Neiton Kodra im albanischen Landwirtschaftsministerium
Der Rumäne, damals in Begleitung eines Herren Bonet, der Rehse als Prokurist von Schmidt-Cretan vorgestellt worden war, habe eine Hilfslieferung für Albanien zusammenstellen wollen. Zwar sei Rehse stutzig geworden, „weil Cretan einen Im- und Export für Spielkarten führt“, doch der Gast aus Hannover habe ihm versichert, daß er „international tätig sei und Kontakte hat“.
Etwa 200 Tonnen Pestizide will Rehse der Firma Schmidt-Cretan (Werbeslogan „Play with the Best“) mit „deutlichem Preisabschlag“ verkauft haben. Substanzen, die im Westen nicht mehr eingesetzt werden durften und die zum Jahresende 1992 als Handelsgut auch in der ehemaligen DDR wertlos wurden.
Cretan, dessen Firma unter der Nummer 50020 noch im Handelsregister Hannover eingetragen ist, hatte zu diesem Zeitpunkt eine offizielle Anfrage aus dem albanischen Landwirtschaftsministerium vorliegen. Das Papier hat ihm offenbar Neiton Kodra besorgt, ehemaliger Direktor im Landwirtschaftsministerium und zuständig für den Import von Düngemitteln und Pestiziden.
Kodra war zugleich Geschäftsführer von Agroeksport, mit dem Schmidt-Cretan die dubiosen Geschäfte abgewickelt hat.“Kodra hat das alles organisiert“, sagt Agron M. Ramadani, Direktor des Bahnhofes in Bajzë, der seit Monaten mit ehemaligen Staatsbeamten um die Kosten für den Giftzug prozessiert.
Der Eisenbahner steht mit seiner Einschätzung nicht allein. Der Name Kodras gilt als Synonym für Korruption und Bestechung in Albanien.
Cretan und Kodra haben die Pestizide als „humanitäre Hilfe“ getarnt und ins Land geschafft, wo sich hungernde und aufgebrachte Menschen über den Zug hermachten. Mindestens fünf Prozent der Behälter, sagt Ramadani, seien auf diese Weise abhanden gekommen. Ohne zu ahnen, was sich in den kleinen Fässern verbirgt, hätten die Menschen die Pestizide einfach ausgekippt und die Behälter entweder verkauft oder für den Transport von Trinkwasser benutzt.
„Wir zahlen 18 US-Dollar pro Nacht,
um unseren Tod zu bewachen“
Um weiteres Unheil zu verhindern, bewacht die Polizei seit sieben Monaten den Zug. Für den PD-Abgeordenten Dode Kaçaj ist das schon ein wenig verrückt, dass „wir pro Nacht 18 Dollar blechen, um unseren Tod zu bewachen“. Ob jemand durch das Gift geschädigt wurde, vermag niemand zu sagen. „Hier gibt es keine Melderegister“, sagt Landwirt Peter Kokaj, der keine zwei Kilometer vom Giftzug entfernt wohnt. „Wenn jemand daran sterben würde, würde es keiner merken, weil niemand eine Diagnose stellt.“
Dode Kaçaj dringt auf die schnelle Rückführung der Pestizide. Keine 500 Meter vom Standort des Zuges entfernt sprudelt seit etwa 200 Jahren Wasser aus dem Brunnen von Bajzě. Von früh bis spät stehen vor allem Kinder an und holen Trinkwasser. „Wir sind auf den Brunnen stark angewiesen“, sagt der Abgeordnete, „und deswegen verlangen wir, daß die Pestizide wegkommen.“
Die Entsorgung des Sondermülls, so steht es im November-Bericht von Lirim Selfo, Leiter der albanischen Umweltkommission, würde das Land etwa fünf Millionen Mark kosten. Geld, das derzeit nicht in den Kassen ist. Die Albaner hoffen deshalb auf das deutsche Umweltministerium.
In Deutschland streiten Umwelt- und Landwirtschaftsministerium über die Zuständigkeit
Dort aber hat man den Vorgang am 18. Mai offiziell an das Landwirtschaftsministerium abgegeben, sagt der Sprecher des Ministeriums, Franz August Emde. Dabei hatte die Delegation, die unter Leitung von Gesundheitsminister Tritan Shehu im vergangenen Oktober in Bonn gewesen war, Umweltminister Töpfer um Hilfe gebeten. Heute heißt es, daß Umweltministerium sei nicht mehr zuständig.
Im Landwirtschaftsministerium wiederum bestreitet Referatsleiter Ralf Petzold diese Einschätzung. Weil die Mittel in den alten Bundesländern nicht zugelassen waren und darüber hinaus nach Ablauf der Haltbarkeit als Abfall zu betrachten seien, „ist unser Haus dafür nicht zuständig“. Ein Re-Import sei gesetzlich verboten.
Während in Bonn die Aktenordner im Pendelverkehr zwischen den Ministerien unterwegs sind, droht in Bajzë eine Trinkwasserkatastrophe. Das unbeirrbar große Vertrauen, das die Albaner den deutschen Behörden entgegenbringen, ist derzeit jedenfalls kaum gerechtfertigt. Albanien, das gerade die ärgsten Versorgungsnöte gemeistert hat, muß offenbar erneut den Preis der Armut mit dem Leben von Menschen bezahlen.
Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 29. Juni 1993