Ernst Moritz Arndt,
der Mann fürs Volk

Erschienen in der Beilage der Frankfurter Rundschau
zum 150. Jahrestag der ersten Nationalversammlung in der Paulskirche am 18. Mai 1998.
Der Beitrag ergänzt den Artikel „Aller deutschen Welt zeigen, wes Geistes Kinder wir sind“
über die Burschenschaften in Deutschland, der ein Jahr zuvor in der FR erschienen war.  

 

Beinahe wäre der alte Mann im Schatten seines Erfolges unerkannt geblieben: Vergeblich hatte der Bonner Professor am Vormittag des zweiten Sitzungstages zu den Abgeordneten jener Versammlung sprechen wollen, die sich am 18. Mai angeschickt hatte, deutscher Einheit und Freiheit ein Haus zu bauen. Doch in ,,diesem wilden Gewimmel und Gewirr“ der Paulskirche, das er vier Wochen später seinem Kollegen Christian August Brandis in einem Brief schildert, war das „gute alte deutsche Gewissen“ nicht zu Wort gekommen.

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Jacob Venedey.

Bis am Nachmittag dieses 19. Mai der Abgeordnete Jacob Venedey spricht: „Meine Herren, heute morgen ist ein Mann auf die Bühne getreten und, ohne zum Wort gelangt zu sein, wieder herabgestiegen. Es war der alte greise Arndt. Ich glaube, wir sind ihm schuldig zu sagen, daß wir nicht gewußt haben, wer es gewesen.“ Das Parlament reagiert stürmisch, fordert den Abgeordneten des Wahlkreises Solingen auf die Rednertribüne und begrüßt ihn mit ungeheurem Jubel und Beifallruf“, wie es im Sitzungsprotokoll heißt.

Ernst Moritz Arndt – der Seher und Volksredner (Deutsche Blätter), der deutsche Herold und Pannherr (Freiherr Greiffenegg von Wolffurt), der Homer seiner Zeit (Paul Kirmẞ an Ricarda Huch), der nationale Prophet und Künder (Friedrich Meinecke) – Zeitgenossen und spätere Interpreten seiner Schriften haben manchen Titel für den „allgemeinverständlichsten Mann im Vaterlande“ (Friedrich Christoph Dahlmann) gefunden. An diesem Freitag in der Paulskirche, 42 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Teiles seiner Schrift Der Geist der Zeit, mit der Arndt mit einem bis dahin nicht gekannten à publizistischen furor teutonicus zum Kampf gegen Napoleon aufruft und die Massen zu nationalisieren beginnt, dankt ihm das 48er-Parlament für seine „Wirksamkeit für das ganze Deutschland“, wie es der Abgeordnete Alexander von Soiron pathetisch und zutreffend formuliert.

Ernst Moritz Arndt: Bewusst einfältig und klar

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Arndt: Geist der Zeit, 1806.

Bewußt einfältig und klar Wie kein anderer Publizist hat Arndt seit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches 1806, vor allem aber während der Befreiungskriege gegen Napoleon (1813-15) mit feurigen, eingängigen Zeilen für die „Wiedererschaffung eines teutschen Volkes“ und die Einheit des Vaterlandes gestritten und so mitgeholfen, den langen Weg zu ebnen, der zur Paulskirche führt, wo nach Arndts Auffassung Volk und Staat in eins fallen sollten; und das in einer Sprache, die „bewußt einfältig, klar und ohne alle Klügelei des Wortes“ ist, wie er am 11. Dezember 1814 in einem Brief an seinen Freund Karl Schildener notiert.

Bauern, Gesellen und Soldaten sollen seine Botschaft in einer Zeit verstehen, da Deutschland nicht mehr als ein loser Bund von 39 Souveränen war. Eine Botschaft, die in ihrem agitatorischen Stil die Massen mobilisieren soll. Seine Aufrufe gleichen Predigten, die in ihrem christlich-nationalistischen Ton die Wirkung nicht verfehlen.

„Der Gott, der Eisen wachsen ließ“

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Arndt: Katechismus für den Teutschen Kriegs- und Wehrmann, 1815.

Von seinem Katechismus für den teutschen Kriegs- und Wehrmann werden beinahe 80.000 Exemplare gedruckt (Schillers Horen erscheinen in einer Auflage von 2000 Exemplaren). Seine Wendungen vom „deutschen Gott“ oder dem „Gott, der Eisen wachsen ließ“ sind populär und die Frage „Was ist des Deutschen Vaterland“ mit der Antwort „Das ganze Deutschland soll es sein“ wird zum Schlachtruf verschiedenster politischer Gruppierungen im Vormärz (Karl-Heinz Schäfer).

Die Gegenwärtigkeit dieses nationalen Pathos Arndtscher Prägung, nicht die Präsenz seiner Person wirkt in der Runde der Abgeordneten der Paulskirche. Und so zeigen die Parlamentarier dem Erwecker des deutschen Nationalbewußtseins ihre Referenz und weniger dem ständestaatlich orientierten, konstitutionell-monarchischen Konservativen und Warner vor der wilden Republik der roten Mütze“, als der Arndt in der Paulskriche auftritt.

Der Redner, der keiner Partei angehört, aber „gerne und von Vielem aus dem Stegreife reden möchte“, wird als das „gute alte deutsche Gewissen“ bald nicht mehr ernst genommen, sein Plädoyer, die Todesstrafe für Elternmörder und Vaterlandsverräter zu erhalten, bald zurückgewiesen.

Begründer einer nationaldeutschen Bewegung

Gleichwohl: Als Begründer einer „selbständigen nationaldeutschen Bewegung“ (Fritz Valjavec) hat Arndt vermutlich eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Revolution von 1848 in Deutschland geschaffen. Seit dem Ende der Befreiungskriege hatten die aufgeklärten Deutschen, vor allem aber die Burschenschaftler, zunächst im Vertrauen auf den preußischen König von der Einheit des Vaterlandes geträumt. Die fürstliche Klasse stoppte den jugendlichen Aufbruch freilich mit einer 30 Jahre dauernden Restauration der alten überkommenen Verhältnisse.

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Einzug in die Frankfurter Paulskirche, 1848.

,,Mein Beruf ist fürs Volk!“

Im Unterschied zu einem Herder, Kleist oder Fichte, die in den kleinen Zirkeln der Gebildeten Wirkung entfalten, den einfachen Menschen und der Vielzahl der Analphabeten aber fremd bleiben, sprüht Arndt den glühenden Geist seines völkischen Nationalismus unter die Bauern und Handwerksgesellen. Unter jene also, denen sich der Wanderer stets näher fühlt als den krachzenden Geiern der Weisheit und den Hin- und Herflatterern und Hin- und Herschnatterern, die keinen Gott, keine Religion, kein Vaterland haben“, wie er kosmopolitisch und humanistisch orientierte Philosophen, Intellektuelle und Gebildete mit antiaufklärerischen Ressentiment tituliert. „Mein Beruf ist fürs Volk, und ich will ihn erfüllen“, schreibt er am 26. Januar 1814.

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Die Zeitungs-Politiker, Lithographie, G. Pönicke. Leipzig, 1849.

Arndt reagiert damit auf ein Phänomen, das bis heute ohne Beispiel ist: So mächtig die Gedankengebäude entworfen waren, so schwach waren doch die Häuser gebaut, in denen die deutschen Weltbürger die Stürme der Zeit zu überstehen suchten. Franz Schnabel, der große Geschichtsschreiber der Ereignisse des 19. Jahrhunderts, hat davon gesprochen, daß „zu keiner Zeit die Spannung zwischen dem Idealismus der Führer und dem erdgebundenen Dasein der Massen größer gewesen ist als in jenen Jahren, da der deutsche Geist seine Gedankenwelt zum Abschluß gebracht hatte und sich nun anschickte, sie in die Wirklichkeit zu überführen“.

Hass gegen den „Usurpator Napoleon“

Napoleon im Arbeitszimmer mit Hand in der Weste. Gemälde von Jacques-Louis David aus dem Jahr 1812.

Sehnsucht nach der Einheit des Vaterlandes, Haß gegen den Usurpator Napoleon und die Enttäuschung über Fürsten und Gebildete sind es, die Arndt zeitlebens leiten. Die Welt sei „verdorben durch Klügelei und Vielwissen“, kritisiert er, die Philosophen seien unheilbare und trotzige Narren“ und die Fürsten Verräter am Volk. Vor diesem Hintergrund entwickelt Arndt unsystematisch seinen völkischen Nationalismus, der seine Kraft aus seiner Gegnerschaft gegen Napoleon speist und der mit seinem Appell an den Primat der Natur, an die Instinkte des Menschen stark romantische und damit zuweilen auch antiaufklärerische Züge trägt.

Gefährliche nationale Stichworte Volk, Sprache und Christentum sind die tragenden Pfeiler, von denen Arndt in die Welt blickt und urteilt. Klimatische und linguistische Unterschiede grenzen die Völker nach seiner Auffassung wie ein Naturgebot voneinander ab, bestimmen zugleich ihre Grenzen. Deshalb kommt Arndt zu der griffigen wie gefährlichen Formel von einem „Deutschland so weit die deutsche Zunge klingt“. Für ihn steht außer Frage, daß das, was ein Jahrtausend zu uns gehört hat und ein Teil von uns gewesen ist, ferner zu uns gehören muß, ruft er am 5. Juni 1848 den Abgeordneten in der Paulskirche zu, wo lange über Groß- und Kleindeutschland gestritten wird.

Abgesehen von seinem ausgeprägten Franzosenhaß, der den Grundstein für die sogenannte Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen im 19. und frühen 20. Jahrhundert legen wird, gibt Arndt der deutschen Nationalbewegung damit das gefährlichste und folgenreichste Stichwort.

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Arndt: Über Volkshass und über den Gebrauch einer fremden Sprache, 1815.

Sprach- und Staatsgrenzen sind für ihn identisch. Wo aber solche Forderungen aus der luftigen Höhe wohlfeiler Rhetorik auf den Boden politischer Entscheidungen geholt werden, ist der Konflikt zwischen Volksgruppen und Staaten unausweichlich. Arndt hat nicht gezögert, Belgiern, Niederländern, einem Teil der Schweizer, Polen und Tschechen die nationalstaatliche Eigenständigkeit zu bestreiten. Diese nationalantagonistische Grundauffassung der deutschen Nation (Wolfram Siemann) fällt bei Arndt zusammen mit einer wirklichkeitsfremden Verherrlichung des deutschen Volkes. Wir sind von Gott in den Mittelpunkt Europens gesetzt, wir sind das Herz unseres Welttheils, wir sind auch der Mittelpunkt der neuen Geschichte und der Kirche und des Christenthums“, heißt es etwa in seiner Schrift Über Volkshaß und sinngemäß auch im dritten Teil vom Geist der Zeit.

Arndt ist kein Revolutionär

So weitgreifend er in außenpolitischen Fragen ausholt, so verhalten bleibt er in innenpolitischen Fragen. Arndt ist kein Revolutionär, bestenfalls ein patriarchalischer Konservativer, der früh eine ständisch gegliederte konstitutionelle Monarchie fordert, wobei er in seinem ebenso häufig enttäuschten wie naiven Glauben an die preußische Krone mehr auf die Monarchie als auf die Konstitution setzt.

Uber allem schwebt der König, dem er zwar das Gottesgnadentum bestreitet, ihm gleichwohl aber das letzte Wort läßt und ihn mit allen negativen Folgen –  als Oberbefehlshaber der Armee einsetzt. Die Außenpolitik ist sein Ressort, nicht das des Parlamentes. Mit seiner Auffassung, einer seltenen Mischung aus progressiven Ideen und überkommenen Vorstellungen, gehört der 79jährige in der Paulskirche zu den Konservativen. Mitglied im Club Steinernes Haus, zeitweise dessen Vizepräsident, bleibt Arndt als „Strandläufer“ fraktionell aber ungebunden.

Arndt hat die deutsche Frage gestellt und ihre Antwort zuweilen chauvinistisch in Ton und Diktion weniger in den Salons als auf der Straße gegeben. Mit ihm entsteht der neue politische Stil des frühen 19. Jahrhunderts, der auf öffentliche Meinung setzt und die Massen deshalb mobilisiert. Nationalismus nimmt die Form eines diesseitigen Glaubensbekenntnisses“ (George L. Mosse) an und die Siegesfeuer, Fahnen und Lieder, die Arndt als nationale Symbole nach den Befreiungskriegen den Menschen ins Bewußtsein pflanzen will, sind die Elemente dieser weltlichen Liturgie.

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Plakat zur Ausstellung „1848 – Aufbruch zur Freiheit“, Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, 1998.

Als ihr mit der Niederlage Napoleons der Gegner und damit Ziel und Zweck abhanden kommt, gerät der Arndtsche Nationalismus unbemerkt in eine Krise, die er bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Maßlosigkeit seiner Ansprüche kompensiert. Hans Kohn hat zu Recht darauf hingewiesen, daß der französische und der angloamerikanische Nationalismus stets der Versuch gewesen seien, den Staat zu reformieren und eine bessere Gesellschaft zu gestalten. Umgekehrt war der deutsche Nationalismus als Antwort auf Napoleon vor allem eine Strategie, fremde Herrschaft abzuschütteln und nationale Unabhängigkeit zu sichern.

Arndt: Deutsche Freiheit ist Freiheit von Fremdherrschaft

Deutsche Freiheit war vor allem die Freiheit von Fremdherrschaft, französische Freiheit der gesetzlich kodifizierte Schutz vor dem Zugriff des Staates auf den Einzelnen. In Deutschland ist dieser Innenaspekt der nationalen Revolution mit dem Scheitern von 1848 zunächst in den Hintergrund getreten. Mit Bismarcks Werk von 1871 trimphiert das neue Reich als Machtstaat nach außen und als Obrigkeitsstaat nach innen über die Grundrechte garantierende, freie Republik.

Deutschlands Zauberlehrling Arndt hat diese Republik, wie sie die Linke in der Paulskirche gefordert hat, stets abgelehnt; einen modernen Rechtsbegriff, für den Abstammung und Religion des Menschen irrelevant sind und wie er etwa bei Hegel längst entwickelt war, hat er auf der Grundlage seiner völkischen Überzeugung auch nicht formulieren müssen; er gab seine Antwort mit diesem nebulösen, im Grunde mythischen Volksbegriff, der in seiner nationalisierten Form zur verheerendsten Kraft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geworden ist.

Es mag sein, daß der ruhige, klar argumentierende Arndt, der sich in seinen Büchern äußert, nicht der Gefahr erlegen ist, das Völkische blind zu verehren. Gleichwohl war Arndt Deutschlands Zauberlehrling, der mit dem von ihm mitenfachten Nationalismus einen Geist gerufen hat, der Deutschland zweimal in die große Katastrophe geführt hat.