Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 6. Mai 1992
Auf halbem Weg nach Durres, der größten Hafenstadt Albaniens, sehen wir in der bergigen Landschaft zum ersten Male Ölfördertürme. Die verrosteten, etwa acht Meter hohen Eisengerüste stehen im halben Dutzend in der Landschaft. Auf dem hügeligen Gelände, das nach Süden hin in ein breites Tal übergeht, ist niemand zu sehen. Die kleine Station unten an der Straße, die ein wenig an die Rasthäuser der Wells Fargo im Westen der alten USA erinnert, ist verlassen.
Literweise fließt das Öl in den Bach
Wir machen Halt, um uns ein wenig von der anstrengenden Fahrt zu erholen. In der Stille des verlassenen Fleckens drücken die Pumpen im gleichmäßigen, langsamen Tempo das schwarze Gold aus den Tiefen des steinernen Bodens. Doch für den bescheidenen Schatz an Öl trägt offenbar niemand mehr Sorge. Literweise tritt das zähe Rohöl aus den desolaten Leitungen und fließt in den nahegelegenen Bach, wo die Ufer unter einem undurchdringlichen schwarzen Film in der Nachmittagssonne dunkel leuchten. Hier ist alles mit Öl verseucht: Im Bachbett sammelt sich das ausgetretene Öl und fließt als dunkle Flüssigkeit zu Tal.
Obgleich die Bevölkerung schon im vergangenen harten Winter fast keinen Brennstoff zum Heizen der Hütten mehr hatte, versickert das Öl hier unkontrolliert im Boden. Umweltschutz ist hier ein Fremdwort: Die Menschen treiben andere Sorgen um.
Mehr als 100.000 Bunker im Land der Shqipétaren
Wir fahren weiter und sehen ein paar Kilometer vor Durrës zum ersten Male die Adria von albanischer Seite. Feiner Sand liegt an den Stränden, die zur Straße hin von den wenigen, kleinen Wäldchen, die es im Lande noch gibt, abgeschirmt werden. Die erste Idylle, die wir in diesem Land entdecken, hat freilich ihren Makel: Wie überall im Drei-Millionen Einwohner großen Shqipéria, wie die Einheimischen ihr Land nennen, hat der alte Diktator Enver Hoxha zahllose Bunker bauen lassen, vermutlich mehr als 100.000 Zwei-Mann-Unterstände, gebaut aus Eisen und Spezialbeton.
An der Küste stehen die armierten Behausungen teilweise in Doppelreihen, Bunker, die einem oder zwei Soldaten Schutz bieten sollen. Die Betonartefakte sollten die Invasion der Imperialisten aufhalten, die von Hoxha stets befürchtet worden war. Inzwischen sind die nahezu unverwüstlichen Bauwerke Symbole des Wahns geworden: Mahnmale eines pervertierten Sicherheitsdenkens, das mehr den Machterhalt der kommunistischen Elite im Sinne hatte als das Wohl der Menschen, die sich – sofern sie Bauern sind – tagtäglich auf den Feldern mit den kleinen Betonmonumenten zu plagen haben.
Der letzte Triumph des gestürzten Regimes
Viele dieser Bunker waren noch vor einigen Wochen mit Soldaten besetzt, inzwischen sind die meisten Unterstände verlassen. Manche Betonhöhlen dienen Tieren und Menschen gleichermaßen als Toilette. Sie zu beseitigen, übersteigt die Kraft der Albaner im doppelten Sinne. Zum einen fehlt es an Mitteln, zum anderen mangelt es an Initiative. Und dort, wo einzelne erfolglos versucht haben, die Betonklötze auszugraben, ragen die armierten Unterstände wie der letzte Triumph eines gestürzten Systems in die Höhe.
Wir lassen Durrës linker Hand zurück und fahren über Laç und Lezhë in Richtung Shkodër weiter, der alten Handelsstadt Albaniens. Mehr als 75.000 Menschen leben hier an den ehemaligen Prachtstraßen und in den verwinkelten Gassen der nördlichen Metropole. In dieser Stadt hat vor Monaten die demokratische Bewegung in Albanien ihren Ausgangspunkt genommen.
Mitten auf einem der Plätze der Stadt liegt eines der Opfer, das von der Polizei während einer friedlichen Demonstration erschossen worden ist. Die Stätte ist mit ein paar Steinen umfasst. Auf dem Grab liegen Blumen, die von den Menschen in der Stadt noch immer hierher gebracht werden. Die ungewöhnliche Ruhestätte inmitten des Verkehrs ist der erste stumme und nachhaltige Aufschrei der Menschen, die dem Wort der Partei jahrelang Folge zu leisten hatten und nun aufbegehrt haben gegen die rote Diktatur.
Daß die alte Clique nicht mehr in der Lage ist, das Grab einzuebnen, ist vielleicht der deutlichste Beweis für die Kraft des neuen Windes, der im Lande langsam zu wehen beginnt.
Es ist dunkel geworden. Wir verlassen die Stadt nach Norden. Während der Fahrt können wir in die tristen Wohnungen der Menschen hineinsehen, ärmliche Behausungen, deren Fenster verhängt sind. Schwaches Licht kann die Wohungen kaum ausleuchten, den Blick auf die spärliche Habe geben sie trotzdem frei. Etwas Trauer liegt über dieser Stadt, die andererseits wie kein anderer Ort ein wenig von der Aufbruchstimmung vermittelt.
Die Straßen sind voller Menschen, die noch in der Dunkelheit entlang der ehedem sozialistischen Boulevards flanieren. Sie strahlen Ruhe und gelegentlich Heiterkeit aus. Aber das kann täuschen. Wer Hunderte von Kilometern durch das geplagte Land gefahren ist und hinter jeder Kurve und in jeder Ebene der Verzweiflung begegnet ist, der nimmt die Menschen von Shkoder anders wahr: Es mag Zufall sein, aber gerade im katholischen Norden, der unter der Herrschaft Hoxhas besonders zu leiden hatte, ist die Bevölkerung anderer Stimmung als im überwiegend von Moslems bewohnten mittleren und südlichen Teil des Landes.
Gegen 21.30 Uhr passieren wir Koplik, die letzte größere Stadt vor Bajzë, unserem Zielort. Elf Kilometer trennen uns noch vom Ende der Reise. Mehr als zwölf Stunden sind wir inzwischen unterwegs in Albanien. Die Gruppe ist erschöpft. Die Bilder der hungrigen Kinder sind uns im Kopf geblieben und haben psychisch erschöpft. Die Anstrengungen der Fahrt, die kilometerlangen Rüttelpisten mit mit ihren gefährlichen Schlaglöchern haben uns außerdem physisch ausgelaugt. Kurz nach 22 Uhr treffen wir schließlich in Bajzë ein.
Die Familie Pepaj empfängt uns herzlich. Kaum sitzen wir im Wohnzimmer des für die Verhältnisse stattlichen Bauernhauses, schlachten die Männer einen Hammel. Albanien zeigt sich erstmals von seiner freundlichen Seite.