Aslan Lici verlässt nur noch selten sein Haus in Shkoder. Der Pensionär, der jahrelang die albanische Sicurumi im Norden Albaniens leitete, hat Angst. Seit Unbekannte seinen 45jährigen Nachfolger auf dem Sessel des Geheimdienstchefs vor knapp drei Wochen erschossen haben, treibt den alten Mann die Sorge um die eigene Haut um.
Titelbild: Grab eines Teilnehmers des revolutionären Aufstandes
1990 auf einem Platz im nordalbanischen Shkodra (Bild: J. Schultheis)
Lici, Anfang 70, hatte sich seit dem Ende des Krieges und dem Beginn der kommunistischen Revolution durch Erschießungen einen furchtbaren Namen gemacht. Mit einer alten Moto Guzzi fuhr der gefürchtete Sicurimi-Mann zu den Häusern seiner Opfer, rief die Männer vor die Tür und knallte sier ab. Das hat in der Region Hani Hot niemand vergessen. „Es gibt hier im Norden keinen Menschen“, sagt ein alter Mann aus Bajze, „der seinen Namen nicht kennt.“
Schwarze Hand: „Den Leuten ein wenig beim Sterben helfen“
Der ehemalige Geheimdienstler könnte demnächst Opfer seiner zweifelhaften Popularität werden. Mitte Februar dieses Jahres gründeten die Söhne der Sicurimi-Opfer eine Organisation unter dem Namen „Schwarze Hand“. 25 bis 30 Leute sollen der Gruppe angehören, die sich das Symbol des Todes zum Zeichen genommen hat. Jetzt wollen jene Rache nehmen, die jahrzehntelang unter dem Terror des Geheimdienstes und der Killerkommandos zu leiden hatten. „Die Schwarze Hand“, heißt es im Norden zynisch, „will diesen Leuten ein wenig beim Sterben helfen.“
Eine Liste mit Personen, die das Todesurteil der Gruppe treffen soll, hängt im Norden aus. Auf Platz Nummer zwei hat die Racheschwadron den Namen von Aslan Liçi gesetzt.
Die Lage im Land ist explosiv. Neben dem schwelenden Konflikt zwischen der alten Nomenklatura und ihren zahlreichen Opfern, die sich nun zu Wort melden, kommt ein neuer hinzu: der immer härter geführte Kampf um die Verteilung der spärlichen Güter. Es mangelt nach wie vor an Nahrungsmitteln, an Gütern des täglichen Bedarfs.
Die meisten Geschäfte sind leer oder geschlossen. Für das tägliche Durchschnittseinkommen sind gerade noch zwei lange Roggenbrote zu je fünf Leke zu bekommen. Die Anderthalbliter-Flaschen Cola oder Fanta – Waren, die über die griechische Grenze ins Land kommen und an den Straßen im Umfeld der Städte angeboten werden – kosten etwa eineinhalb Dollar. Das sind umgerechnet etwa 120 Leke. Für chinesische Räder, die fast überall im Lande zu sehen sind und die über die jugoslawische Grenze geschmuggelt werden, legen die Kunden bis zu 35 Dollar auf den Tisch.
Manchmal wird auch Zucker auf dem schwarzen Markt angeboten. In den Küchen des Landes fehlt er schon länger. Doch die Kunden sind – sofern sie die teure Ware bezahlen können – beim süßen Kristall vorsichtig geworden, seit einige Menschen nach dem Genuß an Vergiftung gestorben sind. Gewissenlose Händler hatte die Ware mit Kali gestreckt, um größere Profite zu machen.
Die eingeleitete Landreform soll die Versorgung verbessern
Die Stabilisierung und die Verbesserung der täglichen Versorgung wird darüber entscheiden, ob Albanien in nächster Zukunft im Bürgerkrieg versinken wird oder nicht. Die große Mehrheit der Bevölkerung kann die auf dem Schwarzmarkt angebotenen Waren nicht bezahlen. Unzufriedenheit ist deshalb überall zu spüren. Viele hoffen deshalb auf die eingeleitete Landreform, die das in Kooperativen zusammengefaßte Land wieder an die alten Eigner zurückgeben soll. Der privaten Initiative will die neue Regierung unter Salih Berisha damit den Weg freimachen, um die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu garantieren.
Doch über einen Grundsatzbeschluß hinaus ist der Plan bislang noch nicht gediehen. Dabei fehlt es nicht nur an präzisen Ausführungsbestimmungen für die Reform. Unklar ist vor allem noch, welcher Bauer welches Stück und wieviel Land bekommt. Nach dem Stand des Verfahrens sollen die Bauern mit mittlerem und kleinem Besitz ihr Land in vollem Umfang zurückerhalten, während ehemalige Großbauern nur auf einen relativ kleinen Teil der alten Flächen rechnen dürfen. Ein Großteil dieser Flächen soll weiter aufgeteilt und vergeben werden. Wer sein Land bereits zurückerhalten hat, darf den neuen Besitz in den nächsten fünf Jahren nicht weiterverkaufen.
Bislang bewirtschafteten die Kooperativen etwa 80 Prozent der Anbauflächen. Sie sind längst aufgelöst worden. Diese Felder seien „zu 85 Prozent schon in der Hand der Bauern“, sagt Viktor Fuka, Spezialist für Viehzucht im Ministerium. Schon während des nächsten Monats wolle die neue Regierung die Rückgabe ganz abgeschlossen haben. „Das ist gesetzlich abgesichert“, betont Puka. Der Optimismus bei den Bauern sei deshalb „sehr groß“.
Die Bauern stecken längst ihre Felder ab
Tatsächlich aber kümmern sich die Bauern nur in Ausnahmefällen um das zurückgegebene Land, sofern sie überhaupt schon Eigentümer im juristischen Sinne sind. Nicht einmal 15 Prozent der gesamten Anbaufläche sind derzeit bewirtschaftet, die meisten Felder liegen brach. Nur in einigen wenigen Fällen haben Bauern mit kleinen Steinpyramiden ihre Felder abgegrenzt und mit der Aussaat begonnen. Vor allem im katholischen Norden nehmen die Landwirte längst die Hacke in die Hand, um für eine gute Ernte zu sorgen. Ihr Erfolg wird über die Politik des Landes maßgeblich entscheiden. „Die Demokratische Partel wird überleben, wenn die Frage des Eigentums geklärt ist“, sagt ein Intellektueller in Tirana.
Unterdessen sind die Menschen in ganz Albanien weiterhin auf Hilfslieferungen aus dem westlichen Ausland angewiesen, etwa mit der Operation Pelikan (Operazione Pellicano). Von Mitte September 1991 bis März 1992 waren mehr als 90.000 Tonnen Güter, vor allem Nahrungsmittel und Hilfsgüter, im ganzen Land verteilt worden. Um die Hilfsaktion abzusichern, waren bis Anfang 1992 rund 900 italienische Soldaten in Albanien stationiert. Um die Lieferungen zu finanzieren, hatte die Regierung in Rom eine neue Steuer beschlossen.
Ein Großteil der Spenden landet auf dem Schwarzmarkt
Spenden kommen aber auch aus Deutschland, England und Holland. Ein Großteil der Lieferungen verschwindet freilich in dunklen Kanälen. Vor allem Mitglieder des alten Herrschaftsapparates, die beim Zoll und in den Verwaltungen tätig sind, arbeiten in die eigene Tasche. Ganze Lkw-Ladungen gelangen so auf den Schwarzmarkt. Neben den früheren Kommunisten ist im Norden eine Gruppe rücksichtsloser Mafiosi aktiv, die nachts die Fahrer mit Gewehren und Maschinenpistolen aufhalten und die Transporter ausrauben.
Der neuen Regierung in Tirana bleibt deshalb wenig Zeit, um das Land aus der Krise herauszuführen. Die weitverbreitete Lethargie, die drückendste Hypothek des Landes, und die zunehmende Brutalität im Verteilungskampf unter den Menschen stellt die Berisha-Riege vor nahezu unlösbare Probleme. Zwar gilt der Nachfolger Ramiz Alias, des letzten kommunistischen Präsidenten im letzten kommunistischen Land Europas, mancherorts als kluger und weiser Mann, doch inzwischen melden sich auch die ersten Opfer Berishas zu Wort. Der jetzige Staatschef war vor Jahren Leibarzt des allmächtigen Staats- und Parteichefs Enver Hoxha und Leiter einer psychiatrischen Klinik. Er hat vermutlich in mehr als einem Fall als Erfüllungsgehilfe der alten Diktatur gewirkt. Gerüchte, die in der Hauptstadt umgehen, melden etwa die Rückkehr eines Arztes, der unter Berisha nicht mehr bereit war, Dissidenten im Krankenhaus zu ,,behandeln“.
„Wir sind am Boden“, sagt ein Intellektueller in Tirana