Wer in Frankfurt am Main bei Prof. Dr. Lothar Gall Geschichte studiert hat, einem der großen Bismarck-Biographen Deutschlands, muss nicht lange überlegen, wenn die Beilagen-Redaktion der Frankfurter Rundschau einlädt, um über eine Publikation zum 150jährigen Jubiläum des Paulskirchen-Parlaments von 1848 zu beraten. Im Juli 1997 hatte der FR-Kollege Wolf-Gunter Brügmann zur Sitzung eingeladen, die ich am Ende mit dem Auftrag verlassen habe, drei große Stücke für die Beilage zu schreiben: Eines über die Außenpolitik des 48er-Parlaments, eines über Ernst Moritz Arndt und ein kürzeres Stück die Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold.
Die Arbeit an den Stücken hat mich neben der regulären Tätigkeit für die FR an meine Grenzen geführt, wochenlang habe ich stundenweise in der Deutschen Bibliothek verbracht, um die Sitzungsprotokolle des 48-Parlaments auf Mikrofiche zu lesen oder Texte von Arndt zu studieren, die ich in der Frankfurter Universitätstbibliothek einsehen konnte. Das gesammelte Material hat am Ende Aktenordner gefüllt.
Der Aufwand hat sich in vielerlei Hinsicht gelohnt: Für das Stück über die Außenpolitik bin ich vom Frankfurter Presseclub und von der Stadt Frankfurt am Main mit einem Preis belohnt worden. Die Freude war doppelt groß: Zum einen hatte mein alter Geschichtsprofessor Lothar Gall die Begleitausstellung zum Jubiläumsjahr organisiert, zum anderen erhielt ich den Preis aus den Händen des ehemaligen FR-Chefredakteurs Werner Holzer, damals Ehrenvorsitzender des Presseclubs.
Die Laudatio
von Werner Holzer
„Dass in den Debatten der Paulskriche der Nationalismus eine wichtige Rolle gespielt hat, der nicht immer zu dem Ruf für Freiheit für alle Menschen passen wollte, ist uns heute deutlicher als es den handelnden Personen im Revolutionsjahr wohl gewesen ist. Jürgen Schultheis geht in seiner Untersuchung gerade diesem Aspekt mit großer Sensibilität und Genauigkeit nach. Dass in den nationalen, ja in den nationalistischen Aufwallungen in der Paulskirche auch die Wurzeln jener späteren Pervertierungen lagen, die großdeutsches Denken zum Sprengstoff für den Frieden in Europa gemacht hat, will so mancher heute nicht mehr sehen.
Jürgen Schultheis erfüllt in seiner Arbeit die beiden zentralen Forderungen Marc Blochs nach Wahrhaftigkeit in der Darstellung und nach der Notwendigkeit, Verständnis für die Zeit zu suchen und zu haben. Es geht ihm nicht um ein verspätetes moralisches Urteil, sondern um Erhellung der Wirklichkeit von damals und ihrer Wirkung auf unser heutiges Denken und Handeln. Und insofern haben wir vielleicht doch manches auch aus dem Scheitern von 1848 gelernt.“
Aus meiner Dankesrede bei der Preisverleihung:
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, Lothar Gall, mein Geschichtslehrer an der Goethe-Universität, hat im vergangenen Jahr der modernen Geschichtswissenschaft die Aufgabe zugeschrieben, das kulturelle Gedächtnis zu erforschen und darzustellen. Wenn ich mir anschaue, wie viel fleißige Menschen in diesem Jahr geschrieben und gesprochen haben über das Jahr 1848, dann glaube ich, haben wir diesen Anspruch ansatzweise erfüllt.
Gewiss haben Journalisten in Form und Darstellung nicht die Ansprüche wie Wissenschaftler. Ich glaube auch nicht, dass das notwendig ist. Aber durch die Vielzahl der Beiträge, die veröffentlicht worden sind, ist dieses Thema popularisiert worden. Und ich bin überzeugt, dass bei einer Straßenumfrage zum Thema 1848 die Antworten heute befriedigender ausfallen als vielleicht noch vor ein, zwei Jahren.
Wir Deutsche haben Schwierigkeiten mit der Nation, mit Deutschland. Was mag das sein, was soll es sein? Wenn man sich die Geschichte seit den Befreiungskriegen bis heute anschaut, also seit 1813, habe ich in den vergangenen Jahren den Eindruck gewonnen, dass – wie es mal ein Frankfurter gesagt hat – in unserer Brust zwei Seelen schlagen. Wir sehen im Rückblick auf der einen Seite diese häufig mit Emphase vortragenden Nationalisten, die stolz sind auf ihr Germanentum, auf ihr Christentum, auf ihre Reinheit und ihre Überlegenheit, und auf der anderen Seite eine Gruppe von Menschen, die vielleicht in den 150 Jahren ein bisschen zu kurz gekommen ist in der Darstellung. Jene nämlich, die einen Begriff von einer modernen Verfassung entwickelt haben und von Werten.
Ich darf Georg Wilhelm Friedrich Hegel erwähnen. Hegel hat in der Rechtsphilosophie in einer Fußnote geschrieben: ,Der Mensch gilt als Mensch, weil er Mensch ist und nicht weil er Jude, Katholik, Engländer oder Franzose ist.´ Ich denke, dieser Geist ist der Geist, der heute auch noch wehen sollte. In der Paulskirche hat es Politiker gegeben, die diese Ideen vertreten haben.
Sie wissen, dass der Erfolg viele Väter und Mütter hat. Ich möchte an dieser Stelle vor allem meinen Eltern Richard und Elli Schultheis danken, die in mir das Interesse für Geschichte geweckt und gefördert haben. Ich möchte Prof. Gall danken, bei dem ich studiert habe und der dieses Interesse geschult hat, und nicht zuletzt danke ich auch der Frankfurter Rundschau, die den Journalisten, die für dieses Blatt arbeiten, den Raum gibt, solche langen Stücke zu schreiben oder sich solchen Themen zu widmen. Das, denke ich, ist heute bei aller Vielfalt in der Szene durchaus nicht immer selbstverständlich.
Diejenige, die unter all dem ein gutes halbes Jahr gelitten hat, war meine Frau Annette Schlosser. Sie möchte ich an dieser Stelle noch einmal um Entschuldigung bitten für die Zeit, in der die Stücke für die Beilage der Frankfurter Rundschau entstanden sind. Es war keine einfache Zeit.“
Das Weltbild war ein Traumbild –
die Außenpolitik des 1848-Parlamentes
Erschienen in der Beilage der Frankfurter Rundschau zum 150. Jahrestag der ersten Nationalversammlung in der Paulskirche am 18. Mai 1998
Das Scheitern der Revolution von 1848/49 und der anfangs großdeutschen Pläne der Paulskirche haben einen europäischen Krieg zur Jahrhundertmitte verhindert und die Antwort auf die brisante deutsche Frage offengelassen. Das ganze Deutschland hatte es nach Ernst Moritz Arndt und der großen Mehrheit der Abgeordneten sein sollen, ein nationales Reich, in das die Niederlande, Belgien und die deutschsprachige Schweiz zurückkehren, in das Teile von Böhmen und Mähren integriert und dem die Westhälfte Polens zugeschlagen werden sollte.
Ein Reich, dessen Grenze durch die Verbreitung der deutschen Sprache bestimmt sein oder über sie hinausgreifen sollte, von Nord- und Ostsee bis nach Oberitalien und an die Adria, mächtig genug, daß kein Kanonenschuß auf der Welt erschallen darf, ohne daß darin Deutschland sein Einsehen hat, wie es der Gießener Abgeordnete Carl Vogt am 15. Januar 1849 in der Paulskirche nannte.
Es blieb ein romantischer Traum der rechten und linken Fraktionen im ersten deutschen Parlament, mit starkem chauvinistischen Grundton, eine Melodie, die in den folgenden Jahrzehnten in zahlreichen Variationen immer wieder gesungen und zuweilen auch gebrüllt worden ist.
Mit dem Sieg der alten fürstlichen Mächte über die bürgerliche Revolution 1849, mit der Wiederherstellung des Deutschen Bundes und seinen zahlreichen einzelstaatlichen Herrschaften auf deutschem Boden unter der Führung des wiedererstarkten Österreichs war aus der Perspektive der alten innen- und außenpolitischen Mächte die Gefahr der geeinten deutschen Nation einstweilen gebannt: Innenpolitisch blieb das legitimistische Prinzip herrschend, jene Annahme von der auf dem Gottesgnadentum der Könige beruhenden und deshalb rechtmäßigen Herrschaft über das Volk.
Außenpolitisch war der status quo des Wiener Kongresses von 1815 wiederhergestellt, Deutschland in Einzelstaaten geteilt und jede Herrschaft als souverän und unverletztlich anerkannt. Ein bundesstaatliches Konglomerat und keine macht- und wirtschaftspolitische Größe, die im Konzert der europäischen Machte Rußland, England und Frankreich eine Stimme von Gewicht gewesen wäre und die Interessen Petersburgs, Londons oder Paris‘ hätte berühren oder gar gefährden können; Interessen, die im Kern doch immer der jeweiligen Staatsräson und nicht etwa liberalen oder humanistischen Prinzipien verpflichtet waren.
Keine Aussicht für eine Republik
Es ist richtig, daß die von der Paulskirche angestrebte nationale Einheit nicht von den europäischen Mächten verhindert worden ist, wie vor allem in der preußisch-orientierten Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts behauptet worden ist. Ebenso falsch ist aber auch die These, die außenpolitische Lage sei keineswegs ungünstig gewesen, die deutsche Einheit nach 1848 zu realisieren.
Der republikanisch verfaßte Einheitsstaat, wie ihn die Linke in der Paulskirche und die revoltierende Bevölkerung spätestens seit dem September 1848 hatte aufbauen wollen, wäre vermutlich am militärischen Einspruch Rußlands gescheitert und hätte zumindest auch den liberalen englischen Außenminister Lord Palmerston über die komplizierten deutschen Angelegenheiten anders denken lassen.
Auch Frankreich war nach der Niederschlagung des Pariser Juni-Aufstandes und dem Wechsel der Mitte-Links-Regierung von Alphonse de Lamartine zu General Eugene Cavaignac wieder zu der von Richelieu begründeten Politik zurückgekehrt und hatte die deutsche Einheitsidee klar zurückgewiesen. Selbst die gemäßigte Form einer konstitutionellen Monarchie in Deutschland, in der das Volk dem König von Preußen die Kaiserkrone aufgesetzt hätte, wäre an der russischen Intervention gescheitert, die wiederum England und Frankreich auf den Plan hätte rufen müssen, weil beide Länder unter diesen Voraussetzungen eine stärkere Hegemonie Rußlands im Osten hätten verhindern müssen.
Kein Verhältnis zu modernen Staatsideen
Zunächst einmal waren es die Abgeordneten der Paulskirche, die mit ihren großdeutschen Plänen die Skepsis des Auslands provoziert und Anlaß zu mancherlei Befürchtungen gegeben hatten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen hatte die verspätete Nation“ (Helmuth Plessner) im unerschütterlichen Glauben an das Heilige Römische Reich kein Verhältnis zu modernen Staatsideen des Westens entwickelt. Der romantische Begriff des Volkes war an die Stelle des abstrakten Begriffs des Staates getreten und damit zur konstituierenden Idee in Deutschland geworden.
Das Selbstverständnis mancher Abgeordneter vor allem der Konservativen war geprägt vom Gedanken des ursprünglichen und anderen überlegenen deutschen Volkes, eine Vorstellung, die ihre Ursprünge vor allem in den Tiefen des Mythos und nicht in den Höhen der Geschichte hatte. Und weil im Gegensatz zu England oder Frankreich der Nationalstaat eben nicht geschaffen war und der Staat als Objekt der Identifikation fehlte, verstanden sich die Deutschen im Zuge ihrer Nationalisierung wesentlich als eine Sprach- und Kulturgemeinschaft, auf deren Grundlage nun, nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon und dem vermeintlichen Ende des verhaßten Metternichschen Systems von 1815 die nationale Einheit geschaffen werden sollte.
„Soweit die deutsche Zunge klingt“
Unter der außenpolitischen Maxime „Soweit die deutsche Zunge klingt“ hat sich die Blütenstimmung des 48er-Frühlings“ (Erich Marcks) freilich recht schnell in einen Herbststurm der nationalen Begeisterung verwandelt, gegen den sich die europäischen Großmächte mehr oder minder stark zu schützen suchten. Und es gehört zur Ironie der Geschichte, daß der erste außenpolitische Konflikt zugleich der Wendepunkt der 48er-Revolution geworden ist.
Das Parlament in der Paulskirche erklärte am 9. Juni 1848 in einem förmlichen Beschluß die Zugehörigkeit des Elbherzogtums Schleswigs zu Deutschland, nachdem Dänemark das Gebiet am 21. März mit Truppen besetzt hatte. Vor allem der Abgeordnete Friedrich Christoph Dahlmann stritt vehement für die Zugehörigkeit des Herzogtums zu Deutschland und stilisierte die Entscheidung darüber zu einer Frage der „Ehre Deutschlands“. Ein Wort, das in den Tagen der frühen Burschenschaften aufgekommen war und in der nationalen Begeisterung des Einigungswerks von rechten und linken Abgeordneten gleichermaßen geführt worden ist.
Obgleich von Dänen bewohnt und völkerrechtlich zu Dänemark gehörend, leugneten die Parlamentarier in Frankfurt vor allem unter dem Einfluß Dahlmanns die Existenz einer dänischen Minderheit in Schleswig. Als dann im Herbst unter dem Druck Rußlands und Englands der Waffenstillstand von Malmö von Preußen ohne Rückendeckung aus Frankfurt unterzeichnet wurde, bricht sich am 18. September der nationalistischen Massen Bahn. Im Verlauf des Konflikts mit der revoltierenden Bevölkerung griff die Paulskirche schließlich auf die Hilfe der alten Mächte zurück und ließ die Revolution der Straße niederwerfen, um die Reform am Katheder nicht zu gefährden.
Paulskirche anntektiert Großherzogtum Posen
Kaum weniger dramatisch verlief der Konflikt um das Großherzogtum Posen. Hatte die aufgeklärte nationale Bewegung noch in Hambach 1832 und später im Frankfurter Vorparlament vom Völkerfrühling, dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen und der Wiederherstellung Polens in den Grenzen von 1772 gesprochen, war davon bald nicht mehr die Rede: Nachdem Preußen eine Demarkationslinie gezogen hatte, um Deutsche und Polen im Großherzogtum ethnisch zu trennen, annektierte die Paulskirche dieses Gebiet als Deutsch-Posen.
In einer der berüchtigtsten Reden, die in der Paulskirche gehalten worden sind, sprach der Abgeordnete Wilhelm Jordan den Deutschen das Recht des Stärkeren zu und empfahl darüber hinaus ein umfangreiches Germanisierungsprogramm für den Donauraum.
Und kaum weniger entschieden bestritten die Frankfurter Parlamentarier in der böhmisch-mährischen Frage den Tschechen das Recht auf Selbstbestimmung. Auch in diesem Gebiet war die deutsche Bevölkerung in der Minderheit, gleichwohl betrachtete die Paulskirche die Region als zum Reich gehörend. Ende Mai garantierte das Parlament zwar Minderheitenschutz für die Tschechen, doch im Zuge des Prager Aufstandes verlangten die Abgeordneten den sofortigen Einmarsch deutscher Truppen.
Der vaterländische Boden
Vergeblich hatten auch die Abgeordneten des zum Deutschen Bund zählenden Welsch-Tirols einen Antrag auf Separation gestellt. Im Gebiet zwischen Brenner und Gardasee wohnten überwiegend Italiener, gleichwohl wies die Paulskirche den Antrag zurück. Deutschland wolle lieber sterben als vaterländischen Boden preisgeben, hatte der Historiker Friedrich von Raumer die Position der Mehrheit der Frankfurter begründet.
Mit der Eingliederung der niederländischen Provinz Limburg durch einen formlichen Beschluß am 19. Juli 1848 verstieß die Paulskirche erneut gegen internationales Recht. Der greise Ernst Moritz Arndt hatte den Schritt wiederholt mit dem Hinweis auf die Reichstradition begründet. Und für den Abgeordneten Gustav Höfken war der Besitz Limburgs die erste Voraussetzung dafür, damit der Rhein von der Quelle bis zur Mündung durch deutsches Gebiet fließen könne.
„Die Nationalversammlung provozierte die Krise mit nichtdeutschen Nationalitäten, praktizierte Vertragsbruch mit auswärtigen Mächten und beanspruchte Gebiete, die über die deutsche Sprachgrenze hinausreichten“, hat Wolfram Siemann die Haltung des 48er-Parlamentes in nationalen Fragen zusammengefaßt.
Daß vor diesem Hintergrund der Zorn über das „national-theoretische Deutschland, den wahren Brutofen des Völkerhasses“ und „die germanistische Lehre von Deutschlands Welthegemonie infolge seiner nationalen Vortrefflichkeit“, (Claus Manicus) auszubrechen drohte, war naheliegend und verständlich. Zumal die Abgeordneten der Paulskirche von ausländischen Beobachtern viel Verständnis für die nationale Emphase mit ihren gelegentlichen chauvinistischen Ausbrüchen verlangten.
Überzogene nationale Ansprüche
Hatte Hermann von Beckerath am 12. Januar 1849 vergleichsweise moderat darüber gesprochen, daß das „erste große Bedürfnis einer großen, gebildeten Nation“ die Macht sei, schlug Georg von Beseler gut vier Monate später schon einen anderen Ton an: „Es ist das Bedürfnis nach Macht und einer Weltstellung, welches durchaus mit dem Streben nach Einheit verbunden ist, und damit wir dieses erreichen, dürfen wir nicht bloß abstrakten Freiheitsbestrebungen nachjagen, sondern müssen auch als Nation zusammenhalten und handeln.“
Die Paulskirche geriet mit ihrer Idee, die Staatsnation mit der Sprachgrenze deckungsgleich zu machen und teilweise über sie hinauszugehen, in eine komplizierte und zum Teil selbst verschuldete Gemengelage: Die legitime Forderung nach nationaler Einheit und Freiheit verfolgten die Abgeordneten mit überzogenen Ansprüchen und in einem chauvinistischen Ton, gleichsam mit einer „dilettantischen Katastrophenpolitik“ (Siegfried Kaehler), die Deutschland recht schnell indie „Sturmschicht eines großen europäischen Krieges“ (Friedrich Meinecke) hätte führen können.
Die Gründung eines Nationalstaates
hätte den status quo von 1815 verändert
Dabei überdeckt der Schatten nationaler Emphase der 48er ein grundsätzliches Problem europäischer Machtpolitik, das für Deutschland als aufsteigender Macht unter den Großen Europas vermutlich unlösbar gewesen war: Hätte es für die Großmächte angesichts der Frankfurter Traumpolitik nicht schon genügend völkerrechtlich begründete Anlässe zum Eingreifen gegeben, wäre bei erfolgreicher Revolution vermutlich auch dann interveniert worden, wenn in der Paulskirche die Besonnensten regiert hätten.
Die Gründung eines deutschen Nationalstaates hätte den status quo von 1815 verändert und damit die Interessen der Mächte, vor allem aber die des zaristischen Rußlands, empfindlich berührt. Das war weder im Sinne Palmerstons, noch im Sinne Cavaignacs oder des russischen Ministers Nesselrode: Je nach Lage hätte etwa Rußland aus Gründen der Staatsräson eingreifen müssen, um das Überspringen des revolutionären Funkens ins ohnehin unruhige Zarenreich zu verhindern. Oder England, um damit das von Palmerston favorisierte Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent zu wahren und die eigenen Handelsinteressen zu schützen, die durch den Preußischen Zollverein und die Einfuhraufschläge für englische Waren ohnehin beeinträchtigt waren.
Russland entwickelt Pläne zur gewaltsamen Unterdrückung
Rußland hatte Pläne zur gewaltsamen Unterdrückung der Revolution schon nach den französischen Ereignissen im Februar 1848 entwickelt. Bereits im Sommer des gleichen Jahres standen 250.000 Mann an den Grenzen Preußens und Österreichs bereit, um auf Befehl einzugreifen. Am 23. August 1848 teilte Zar Nikolaus I. mit, die Truppen „in voller Kriegsbereitschaft zu lassen, bis sich Europa beruhigt hat“. Es war das erklärte Ziel des Autokraten, in Preußen einzumarschieren, falls die Hohenzollern-Dynastie gestürzt und eine Republik ausgerufen werden sollte und der preußische König den Zaren um Hilfe bitten würde.
Karl Marx und Friedrich Engels haben die Haltung Rußlands in ihrer Analyse über die Revolution 1848 so zusammengefaßt: „Moralische Einheit Deutschlands erlaubt uns … die russische Regierung herzlich gern, nur keine materielle Einheit, nur kein Verdrängen der bisherigen Bundestagswirtschaft durch eine auf Volkssouveränität gegründete… Zentralgewalt.“ Folgerichtig erkannte die große Mehrheit der Paulskirche, vor allem die Linke, den russischen Despotismus als Hauptfeind, nachdem Rußland und England in der Schleswig-Frage erfolgreich Druck auf Preußen ausgeübt hatten und die erste Selbstbehauptung des deutschen Nationalismus außenpolitisch gescheitert war.
Frankreich war gegen ein Deutsches Reich
Weniger entschlossen, wenngleich deutlich in der Grundhaltung reagierte auch Frankreich nach dem Juni-Aufstand in Paris und dem Wechsel der Regierung von Lamartine zu Cavaignac. Der französische Geschäftsträger in Frankfurt faßte die Haltung seiner Regierung mit folgenden Worten zusammen: „Wichtig für Frankreich ist, daß Deutschland eine als Bund organisierte Macht bleibt und sich nicht als nationale Einheit konstituiert. Der Bestand der konstitutionellen Monarchie ist ein Hindernis für diese Einheit, das sie morgen noch nicht überwinden wird.“ Unmißverständlich reagierte auch Cavaignac. Ein Reich von 40 Millionen im Osten sei eine Bedrohung für Frankreich. „Wir würden Rußland darwider die Hand reichen müssen“, sagte er ihm Oktober 1848.
Offensiver antworteten die französischen Konservativen um Thiers auf die neue deutsche Situation: Laut wurde über einen Feldzug an den Rhein nachgedacht. Und Montalembert schrieb in der Zeitung „Univers“: „Der letzte Rest von Frankreichs Übergewicht in Deutschland wird schwinden durch die Einigung, und die sechzig Millionen werden alles wiederholen, was ihnen geraubt wurde, sie werden ein Interesse und gute Gründe dafür haben, Elsaß-Lothringen zurückzufordern.“
Disraeli und die „50 verrückten Professoren“ in Frankfurt
Auch Englands Konservative unter Benjamin Disraeli standen skeptisch, wenn nicht ablehnend einer deutschen Einigung gegenüber. Frieden in Europa zu bewahren heiße, den Anfängen nationaler Befreiungspolitik in Deutschland zu wehren. Disraeli, der jene berüchtigte Wendung von den „50 verrückten Professoren in Frankfurt“ geprägt hat, die sich als Reichtstag bezeichnen aus eigenen Gnaden, sprach deshalb vom „träumerischen und gefährlichen Unsinn, der deutsche Nationalität genannt wird.“
Englands liberaler Außenminister Lord Palmerston reagierte vorsichtiger, wenngleich auch er die Staatsräson über liberale Prinzipienpolitik stellte. Zwar befürwortete Palmerston eine engere Zusammenarbeit der deutschen Staaten, um Deutschland zu stärken, aber er sprach doch stets von den „separate states“, nie von einer Einigung aufgrund nationalstaatlicher Vorstellungen im deutschen Sinne“ (Kurt Weisbrod). Seine Maxime war die des Gleichgewichts auf dem europäischen Kontinent und die der Förderung des gegenseitigen Mißtrauens unter den Kontinentalmächten.
Wo Palmerston seine Politik gefährdet sah, arbeitete der Liberale notfalls auch mit Repräsentanten des russischen Despotismus wie Nesselrode zusammen, um etwa die Wiederherstellung Polens zu hintertreiben. George J. Billy hat deshalb mit Recht davon gesprochen, daß die Außenpolitik des Liberalen Palmerston vor diesem Hintergrund konservativ gewesen sei, weil er wie Nesselrode an der Gleichgewichtsordnung von 1815 festgehalten habe.
Außenpolitik mit einem Traumbild treiben
Die Probe aufs Exempel mußten die Großmächte 1848/49 nicht bestehen, weil die bürgerliche Revolution und mit ihr die am Ende diskutierte kleindeutsche Lösung gescheitert ist. Mit dem Wiedererstarken der alten Mächte in Deutschland und der Absage an die nationale Einheit war die Gefahr der Intervention auswärtiger Mächte einstweilen gebannt. Die deutsche Frage wurde vertagt.
Was blieb, war die Erkenntnis, daß die deutsche Eigenschaft, „von einem Traumbild her Außenpolitik zu treiben“, in der Paulskirche schon vorbereitet worden ist, „und manches Schlagwort, das später verhängnis wirkte, findet sich schon damals“ (Wilhelm Mommsen).