Deichmann: „IG Farben gingen
wegen der Häftlinge nach Auschwitz“

Die Frage ist jahrzehntelang kontrovers diskutiert worden: Haben die IG Farben den Standort Auschwitz wegen der Verfügbarkeit von Kohle, Wasser und Energie gewählt oder fiel die Entscheidung für das Konzentrationslager Auschwitz, weil dort Sklavenarbeiter als billige Arbeitskräfte vorhanden waren? Die Frage war für mich bei der Recherche für die Sonderseiten der Frankfurter Rundschau zur Frage, welche Verantwortung der IG Farben-Manager und -Ingenieur Friedrich Jähne damals getragen hat, von besonderer Bedeutung.

Im Zuge der Recherchen bin ich damals auf Dr. Hans Deichmann aufmerksam geworden, der Anfang der 90er Jahre in Mailand gelebt hat und 2004 verstorben ist. Deichmann, Neffe des IG Farben Vorstands Georg von Schnitzler, war Ohrenzeuge eines Gesprächs bei einem Familientreffen, bei dem es um den Einsatz der KZ-Häftlinge ging. Nach der Veröffentlichung des Interviews hat mir Dr. Deichmann zwei Dokumente zukommen lassen, die im US Tribunal gegen die IG Farben vorgelegt worden waren. Die Aussagen von Ernst A Struss, Direktor des Büros des Technischen Ausschusses der IG Farben, bestätigen das, was Deichmann beim Familientreffen gehört hatte: Der Standort Auschwitz war wegen der Arbeitssklaven gewählt worden (Dokumente am Ende des Beitrages).

Bild: Dr. Hans Deichmann (re) erhält 1996 den Geschwister-Scholl-Preis. Der Preis zeichnet Bücher aus, die von geistiger Unabhängigkeit zeugen und geeignet sind, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben. Der Preis wird vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V. gemeinsam mit der Landeshauptstadt München vergeben. Im Bild der damalige OB Christian Ude (Mitte) und Christoph Wild, Vorsitzender des Verbandes Bayerischer Verlage und Buchhandlungen e.V.

 

Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 2. November 1993

 

FR: Herr Dr. Deichmann, in welcher Verbindung standen Sie zur IG-Farben?

Deichmann: Ich bin am 1. Januar 1931 als Lehrling bei der IG Farben, Sektor Farbstoffverkauf, in Frankfurt eingetreten. In Frankfurt befand sich die Zentrale für den Verkauf von Farbstoffen und Färbereihilfsprodukten. Ich habe dann in verschiedenen Phasen die gräßliche Lehrzeit, weil praktisch inhaltslos, von zwei Jahren durchgemacht. 1942 wurde ich auf meinen Druck hin Prokurist der Abteilung Italien, zwei Monate bevor ich dienstverpflichtet wurde.

Haben Sie im Verlauf Ihrer Ausbildung viele Mitarbeiter der IG Farben kennengelernt?

Ja, die habe ich besonders dadurch kennengelernt, daß Georg von Schnitzler, der Vorsitzende des Kaufmännischen Ausschusses, mein Onkel war. In seinem Haus hatte ich zunächst Gelegenheit zu manchen Begegnungen, und später hatte ich durch meine Arbeit mit vielen Leuten zu tun.

Mit welchen Leuten sind Sie zusammengekommen?

Ich könnte natürlich eine ganze Menge nennen, aber das würde vielleicht in die Irre führen, weil ich im Hause von Schnitzler nur wenigen begegnet bin, die über ihre Arbeit gesprochen haben, und so hat beispielsweise jemand gesagt, wir hatten eine Sitzung, und da hat der das gesagt und der das.

Baustelle des Buna-Werks im Konzentrationslager Auschwitz.

Waren das Vorstands- oder Aufsichtsratssitzungen, von denen Sie hörten?

Das waren Vorstandsangelegenheiten, keine Aufsichtsratssitzungen. Ich kannte zwei Aufsichtsräte, der eine war Vetter meines Großvaters, Walter vom Rath, der andere Carl von Weinberg. Aber zu Beginn der 30er Jahre gab es noch bis 30 Aufsichtsräte, weil die Aufsichtsräte der IG bildenden Firmen einfach addiert wurden. Ein anderer des ehemaligen Aufsichtsrats, den ich kannte, war mein eigener Großvater, aber der war nur zu Beginn drin, als die IG 1925 gegründet worden waren.

Sie waren dann von 1936 an in der Verkaufsabteilung Italien für die IG Farben zuständig. Welche Aufgaben hatten Sie?

Wir korrespondierten wie alle Verkaufsabteilungen mit den Außenstellen der IG im Ausland, wie mit der Firma Arca in Mailand, die in Italien die Farbstoffe der IG Farben verkaufte. Das war nichts Außergewöhnliches, sondern Routine.

Sie sind dann 1942 dienstvervflichtet worden?

Ja, das war eine Art Zivildienst, wie Soldat in Zivil. Wir trugen keine Uniform und wurden auch nicht militärisch eingesetzt.

8000 italienische Bauarbeiter für die IG Farben

Wo oder bei wem waren Sie eingesetzt?

Ich war Beauftragter des G.B.Chem, der Generalbevollmächtigte für Sonderfragen der Chemischen Erzeugung im Vierjahresplan, dessen Chef Karl Krauch war. Dieser war gleichzeitig Vorsitzender des Aufsichtsrates der IG Farben. Vorher war er Mitglied des Vorstands und wechselte von da zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates, als Bosch, mit Carl Duisberg der eigentliche Gründer der IG Farben, starb.

Wie lange waren Sie in dieser Funktion tätig?

Von April 1942 bis zum Ende, also April 1945.

Waren sie im Verlauf ihrer Tätigkeit  als Beauftragter für den G.B.Chem mehrfach in in Auschwitz?

Ja, meine Aufgabe bestand darin, den Vertrag auszuführen, den Krauch mit dem faschistischen Verband der italienischen Bauindustrie gemacht hatte. Diese sind mit 8000 Bauarbeitern, verteilt auf verschiedene, kleinere Firmen, auf die Baustelle nach Oberschlesien gegangen, nach Auschwitz, nach Heydebreck und nach Blechhammer, jede mit ungefähr einem Drittel der Arbeiter. Zur Durchführung des Vertrages und zur Betreuung der Firmen und Arbeiter mußte ich verschiedene Male auf die Baustellen gehen. Mit dem KZ hatte ich direkt nichts zu tun, aber man wußte da natürlich alles Entsetzliche, das im KZ geschah.

Luftaufnahme von Auschwitz III – Monowitz, wo die IG Farben das Buna-Werk errichten ließen.

Wie oft waren sie in Auschwitz?

Zehnmal. Ich kann Ihnen die Daten alle geben, weil ich damals einen Taschenkalender führte, in dem ich allerdings nur meine Ortsbewegungen und die begegneten Personen notierte. Nicht mehr, weil das ja viel zu gefährlich gewesen wäre.

Können Sie sich an den ersten Besuch in Auschwitz erinnern? Welche Eindrücke hatten Sie damals?

Ja, daran kann ich mich sehr genau erinnern. Ich hatte einen angstmachenden Eindruck. Es wurde dort wie gewöhnlich in den KZs gemordet. Erst zu dieser Zeit setzte die große Tötungsmaschinerie ein. Damit hatte die IG Farben nichts zu tun. Sie hat jedoch Auschwitz als Standort gewählt, weil das KZ ihr einen Großteil der Arbeitskräfte liefern konnte.

Unterernährte und erschöpfte KZ-Häftlinge für den Bau

Für die IG wurden jeden Tag mehrere tausend Sträflinge, ein schrecklicher Ausdruck, in Sträflingskleidung in Marsch gesetzt; sie mußten fünf bis sechs Kilometer bis zu ihrer Arbeitsstelle gehen, wo sie, da sie ja alle unterernährt waren, erschöpft ankamen. Das paßte der IG Farben nicht, denn sie wollte leistungsfähige Arbeiter haben. Aus diesem Grund hat die IG Farben Himmler, dem Chef der KZ Organisation, vorgeschlagen, eine Art von Nebenstelle des großen Konzentrationslagers in Monowitz zu bauen, in unmittelbarer Nähe ihrer Baustelle.

Es ist ja häufig bestritten worden, daß IG Farben wegen der KZ-Häftlinge nach Auschwitz gegangen sei. Als Gründe wurden immer die Kohlevorkommen und das Wasser der Weichsel genannt. Trifft das zu?

Ich habe im November 1940 an einem Mittagstisch zugehört, wie ter Meer und von Schnitzler sich darüber unterhielten, wo denn das neue Buna-Werk zweckmäßigerweise hin sollte. Dabei kamen sie zu dem Schluß, der richtige Platz sei Auschwitz, weil da das Konzentrationslager sei und man mit einer gewissen Anzahl von Arbeitern rechnen könne.

Waren außer ter Meer und von Schnitzler noch andere Leute zugegen?

Nein, das war ein Familienmittagstisch, eine ganz unformelle Sache. Ich wußte vorher auch nicht, daß ter Meer mit seiner Frau dort sein würde. Meine Familie wohnte in Dornholzhausen, also weit draußen bei Bad Homburg. Meine Frau kam selten in die Stadt; wahrscheinlich hat meine Tante gesagt, kommt doch zum Mittagessen, also ganz unformell.

Und da saßen wir und starrten einander an, meine Frau und ich, als wir hörten, wie zwei von uns für tadellose gehaltene Männer, im zivilen Sinn, sehr intelligent und tüchtig, sich beim Mittagessen darüber unterhielten, daß man die neue Buna-Fabrik in die Nähe des Konzentrationslagers setzen müsse, damit man genügend Arbeitskräfte hätte. Und dann aßen sie eben weiter, als ob das ein ganz normaler Gesprächsstoff wäre.

Es ist auch behauptet worden, daß die SS-Organisation die IG gezwungen hätte, die Häftlinge als Arbeiter zu nehmen. Stimmt das?

Das ist doch völliger Unsinn. Da gibt’s, entschuldigen Sie, wenn ich mich aufrege, eine Korrespondenz. Göring hat an Himmler geschrieben, er soll Befehl geben, daß die IG die Sträflinge bekommt; also genau umgekehrt. Die SS wollte zuerst gar nicht.

Die Initiative ging also Ihres Wissens von der IG Farben aus?

Ja, ich erwähnte schon: Krauch forderte von Göring, er solle von Himmler einen Befehl an das KZ erwirken, der IG Farben KZ-Häftlinge als Bauarbeiter zur Verfügung zu stellen.

Sie sagten, Sie seien zehnmal in Auschwitz gewesen. Wo genau waren Sie dort?

Ich hatte mit dem Konzentrationslager nichts zu tun, nur mit der IGBaustellenverwaltung. Die Baustelle war riesig. Ich bin nur zwei- oder dreimal dort gewesen.

Im Wollheim-Prozeß gegen die IG Farben 1952 haben die Ingenieure des Konzerns behauptet, die Häftlinge seien gern in Monowitz gewesen, seien mit gutem Essen verpflegt worden und hätten auch eine gewisse Lust an der Arbeit entwickelt. Welchen Eindruck hatten Sie von den Häftlingen in Monowitz?

Ich hatte nur wenig direkte Eindrücke, aber ich habe jedesmal, wenn ich in Auschwitz war, alle Leute ausgefragt. Mein Hauptgesprächspartner war ein Herr Schneider, mit schwarzen hohen Stiefeln und schwarzer Reithose martialisch verkleidet. Schneider war ein sehr ordentlicher jüngerer Mann, nur für ausländische Arbeiter zuständig, aber er wußte alles. Meine italienischen Arbeiter waren freiwillig mit ihren Baufirmen gekommen. Ohne die Sprache zu kennen, wußten auch sie von dem, was im KZ vorging, mehr als die bei der IG tätigen Deutschen, nur weil sie wie ich wissen wollten.

Deichmann: „Die Zustände waren furchtbar“

Ich weiß nur, daß die Häftlinge in Monowitz eine Suppe mehr bekamen, und diese Suppe war so entsetzlich, daß dies auch nicht viel mehr war als das, was die Häftlinge im Hauptlager bekamen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß irgend einer, der dort war, gerne bei der IG Farben gearbeitet hat. Das ist vollkommen unvorstellbar. Die Zustände waren furchtbar. Es gibt 18 IG-interne Berichte über den Verlauf der Bauarbeiten.

In einem steht, daß man mit der SS gesprochen habe, sie möge Erschießungen nicht auf der Baustelle vornehmen. Sie möge auch das „Halbtot-Schlagen“ – das Wort ist nicht von mir erfunden, das steht so in einem der internen Berichte der IG unterlassen. Züchtigungen seien zwar notwendig, aber leider habe die SS die Disziplinargewalt nicht an die IG weitergeben wollen. Die SS führte die Verbrechen selbst auch in Monowitz aus. Konsequenz: Nach 1945 hat die IG von den Grausamkeiten angeblich nichts gewußt, die Greuel seien, ohne die Kenntnis der IG, allein von der SS verübt worden.

Das ist doch eindeutig falsch?

Ja, das ist eindeutig falsch. Die IG hat nicht geschossen, weil sie nicht durfte. Alles war ihr recht, was zu besserer Arbeitsleistung beitragen könnte.

KZ-Häftlinge in Auschwitz-Monowitz.

Ist es denkbar, daß einige Vorstandsmitglieder davon nichts gewußt haben oder glauben Sie, daß solche Vorgänge im Vorstand auch besprochen worden sind?

Federführend für Auschwitz war wie für die technischen Fragen aller Werke der Technische Ausschuß (TEA) mit ter Meer an der Spitze, der den gesamten Vorstand jeweils unterrichtete. Es gibt nun aus 1947 zwei eidesstattliche Erklärungen von Dr. Ernst Struss, dem Direktor und Sekretär des TEA, aus denen eindeutig hervorgeht, daß alle Vorstandsmitglieder unterrichtet waren. Der Bau von Buna-Auschwitz ging sehr viel langsamer vorwärts als man geplant hatte. Einer der Hauptgründe was das Fehlen einer genügenden Anzahl von leistungsfähigen Arbeitern.

Dr. Hans Deichmann.

Würden Sie den Vorstand in seiner Gesamtheit für das verantwortlich machen, was sich in Auschwitz-Monowitz zugetragen hat?

Deichmann: Das kann man so nicht bejahen und verneinen. Alle Mitglieder des Vorstandes haben zusammen die Beschlüsse gefaßt, die zu diesen Zuständen führten, und konnten, sofern sie wollten, die internen Berichte zur Kenntnis nehmen. Aber deswegen können Sie nicht sagen, daß beispielsweise der Chef von Pharma in Leverkusen mitverantwortlich ist für das, was in Monowitz geschehen ist. Das wäre natürlich völliger Unsinn.

Aber die Grundlage für das, was dort geschah, war die stillschweigende Billigung aller Vorstandsmitglieder. Diese haben natürlich nicht gebilligt, daß Leute erschossen wurden, aber sie haben gebilligt, daß diese Zustände beim Aufbau des Werks ihrer Firma herrschten. Das haben sie mitangesehen und keiner hat, das ist mein Vorwurf, Magengeschwüre bekommen. Ich selbst habe 1944 in Auschwitz erfahren, daß eine von der IG beherrschte Untergesellschaft das Giftgas für die Vergasungen lieferte. So muß es auch das zuständige Vorstandsmitglied in Frankfurt gewußt haben. Er war alt genug, um sich wegen Magengeschwüren“ zurückziehen zu können.

Das ist von 1944 an meine Meinung gewesen.

 

Erklärung unter Eid von Ernst A. Stuss am 27. März 1947. Unter Punkt 4 gibt Stuss zu Protokoll: „Was die Verwendung von Konzentrationslagerarbeitern druch die IG Farben betrifft, kann ich mich erinnern, dass dieser Planvon allem Anfang für Auschwitz bestanden hat.“

 

Eidesstattliche Erklärung von Ernst A. Stuss vom 7. April 1947. Stuss gab zu Protokoll: „Ich glaube, dass alle Vorstandsmitglieder über die Verwendung von KZ Häftlingen unterrichtet waren, denn jedermann in Deutschland wusste es, und es ist unmöglich, dass der Vorstand es nicht wusste.“