Ein Hilfstransport für die Menschen im Norden des Landes
Im Frühjahr 1992 hatte die Albanien-Hilfe der evangelischen Kirche Großauheim im hessischen Hanau zu einer Pressekonferenz geladen. Die Gruppe um das Ehepaar Fran und Stella Pepaj – er Exil-Albanier, sie Italienerin – hatte Monate zuvor eine Spendenaktion für Albanien organisiert, das damals – zwei Jahre nach der Revolution -, in ärgster Not war: Die Menschen hungerten, es fehlte an Medikamenten und viele Artikel des alltäglichen Lebens, die im Westen nahezu überall und problemlos gekauft werden konnten, waren im Land zwischen Bajze und Sarande nicht verfügbar. Unterstützung in größter Not hat damals das italienische Militär mit der Operation Pelikan geleistet.
Spenden im Wert von rund 100.000 Mark hatten die Pepajs und ihre Unterstützer in den Monaten zuvor gesammelt, vor allem Kleidung für Erwachsene und Kinder, Medikamente und Nahrungsmittel wie Mehl und Zucker. Fran Pepaj fragte damals spontan in die Runde der anwesenden Journalisten, ob es Interesse gebe, den Hilfstransport zu begleiten.
Ein verlockendes Angebot
Ich arbeitete damals – wie so oft in diesen Jahren – als Urlaubsvertretung für die Frankfurter Rundschau (FR). Im April 1992 war ich in der Lokalredaktion Hanau tätig. Die ersten Sporen hatte ich mir damals schon verdient, etwa mit der so genannten Rushdie-Affäre, die bundesweit Schlagzeilen gemacht hatte – aber eine Reportage aus einem Land, über das der Westen seinerzeit wenig wusste, erschien mir reizvoll und journalistisch lohnenswert. Die Bilder der Flüchtlinge, die auf verrosteten Schiffen in Bari und Brindisi in jener Zeit angekommen waren, und die damals um die Welt gegangen, hatten zumindest einen ersten Eindruck vermittelt, wie es um das Land und seine Menschen bestellt war.
Kurz nach der Pressekonferenz in Hanau, nach Rücksprache mit der Redaktionsleitung der FR, sag keine vergnügliche Reise werden würde. Und wie zur Bestätigung seiner Einschätzung zeigter er am Schluss der Konferenz auf ein Einschussloch an einem der Transporter hin, der bei einem Transpirt zuvor auf das Fahrzeug abgegeben worden war.
Ich hatte keine Ahnung, was auf mich und was auf das Team zukommen würde, das den Hilfstransport 1992 begleitete. Wenn ich heute zurückblicke auf die 25 Jahre, in denen ich für die Frankfurter Rundschau tätig gewesen bin, und mir alle Reportage-Reisen in diesem Jahr vor Augen führe, dann war Albanien das für mich einschneidendste Erlebnis in meiner langen Zeit als Redakteur.
Armut und Überkonsum
Die Erlebnisse habe ich damals in einer achtteiligen Artikelserie für die FR festgehalten. Es war für mich auch eine Möglichkeit, mir das Erlebte sprichwörtlich von der Seele zu schreiben.
Während des Aufenthalts in Nordalbanien sind zahlreiche Fotos entstanden, die es ermöglichen, sich im sprichwörtlichen Sinn ein Bild von den Zuständen im Land der Skipetaren Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu machen.
Womöglich ist die aufkommende „Konsumfreude“ zur Weihnachtszeit in diesen Tagen (Dezember 2024) der richtige Zeitpunkt, die Texte und Bilder von 1992 an dieser Stelle zu präsentieren. Und womöglich sind die Texte von damals auch ein Anstoß, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig und wesentlich ist im Leben und was bloße Zeit- und Ressourcenverschwendung ist angesichts unseres Überkonsums.
Unsere Reise beginnt am 2. April 1992 und endet am 14. April, und unser 1700 km langer Weg führt uns vom Hanauer Stadtteil Groß-Auheim nach San Donaci nahe Brindisi im Süden Italiens. Von Brindisi aus sind wir nachts mit der Fähre nach Sarande im Süden Albaniens übergesetzt und von dort ins 400 km entfernte Hani Hotit in den Norden gefahren, nahe der Grenze zum Kosovo. Unser Tour in Albanien führte uns über Ballaban, Lushnja, Durres, Lac, Shkoder und Koplik nach Bajze und Hani Hotit, wo uns die albanische Seite der Familie Pepaj nicht nur freundlich empfangen, sondern uns auch für eine Woche beherbergt hat.
Die Reise hat mir auch deutlich gemacht, welchen Schaden – materiell wie psychisch – Kriminelle vor Ort in Albanien und im gerade wiedervereinten Deutschland anrichten können. Nahe Bajze hatte ein skrupelloser Spielkartenhändler aus Hannover mit einem korrupten Beamten in einem albanischen Ministeriun einen Zug mit Pestiziden aus der ehemaligen DDR nach Nordalbanien geschickt. Die Reportage, die ein Jahr später bei einem zweiten Besuch im Norden Albaniens entsstanden ist, hat zumindest kurzzeitig die Aufmerksamkeit in Deutschland geweckt (Teil 10).
Die Reportage für das Politik-Ressort der FR, die nach dem ersten Aufenthalt 1992 entstanden ist, beleuchtet die Lage im Land, die Entstehung eines Mehrparteiensystems und die Rache am alten Geheimdienst Securite (Teil 9).
Wenn ich mir die Orte heute auf Google Maps anschaue, die Bilder von Badeorten oder von modernen Hotels sehe, kann ich nach den Erlebnissen damals kaum glauben, auf welche Weise sich dieses Land entwickelt hat.
Die Serie in acht Teilen und zwei Hintergrundberichten
Teil 02: Kleidung und Dollars erleichtern die Zollformalitäten
Teil 03: Hunger, Scham und Hass in den Augen der Kinder
Teil 04: Kleidung für einen zerlumpten Jungen am Straßenrand
Teil 05: Ein Grab inmitten des Straßenverkehrs
Teil 06: Stundenlanges Bangen um die Hilfslicferung
Teil 07: Spendenübergabe im Schutz von Gewehren und Handgranaten
Teil 08: Im Sturm holen sich die Menschen, was ihnen zugedacht ist
Teil 09: Die „Schwarze Hand“ ruft zur Rache am alten Geheimdienst auf
Teil 10: Pappe kann den Giftstrom ins Erdreich nicht aufhalten
Teil 01: Zu Beginn eine Gefühl der Hoffnung
Die beiden wohlbeleibten Lastwagenfahrer, die wir bei Mailand auf einer Autobahnraststätte treffen, haben Sinn für Humor: Beim Anblick unserer Kleintransporter, die bis fast unters Dach mit Hilfsgütern bepackt sind, fragt einer der beiden Männer, die den kannten Stern auf ihrem Overall tragen Na geht ihr Safari? Wie jeder gute Witz entbehrt die Bemerkung nicht ganz der Wahrheit. Wir sind unterwegs in das vielleicht letzte Dritte Welt-Land Europas, das über Jahrzehnte im Schatten der europäischen Geschichte lag.
Unser Ziel heißt Albanien, ein Land zwischen dem zerfallenden Jugoslawien im Norden und dem EG-Staat Griechenland im Süden, ein Gebiet zwischen Orient und Okzident, wo Mitglieder von drei religiösen Gemeinschaften bislang ohne Glaubenskämpfe miteinander auskommen. Drei Millionen Einwohner leben in diesem Land: Die meisten Menschen leiden bittere Not, weil es nahezu an allen Gütern des täglichen Bedarfs fehlt.
Hinzu kommt: Fast 80 Prozent der Erwerbsfähigen sind arbeitslos, die Wirtschaft im Lande ist am Boden, die Produktion nimmt stetig ab. Die vom Parlament eingeleitete Landreform, die Acker und Wiesen privatisieren soll und die Nahrungsmittelproduktion in die Hände der alten Eigner legen will, ist ins Stocken geraten. Wovon die Menschen im nächsten Winter leben sollen, ist ungewiß.
Darüber hinaus ist im ganzen Land nahezu kein Brennmaterial mehr zu haben. Die alten Wälder und Alleen sind abgeholzt, für die Ölquellen im Land trägt offenbar niemand mehr Sorge. Vor allem im katholischen Norden des Landes, der in den vergangenen Jahrzehnten besonders hart unter dem kommunistischen Regime des Diktators Enver Hoxha zu leiden hatte, fechten die Männer, Frauen und Kinder womöglich härter als andernorts ihren täglichen Existenzkampf aus. Wir wollen den Menschen dort, in der Region Hani Hotit, Hilfe bringen.
Zur Gruppe, die sich auf den rund 2100 Kilometer langen Weg nach Hani Hotit macht, gehören die vier Organisatoren der Hilfsaktion, Fran (57) und Stella Pepaj (43), Gerd (62) und Claudia Schäffer (43), sowie Bernd Stolper (39) und ich als Mitarbeiter der FR. Am Donnerstagmorgen des 2. April sind wir gegen zehn Uhr in Großauheim losgefahren, über das Frankfurter Kreuz nach Basel, dann durch den Gotthard-Tunnel über Lugano nach Mailand. Etwa 32 Stunden wird diese Fahrt nach San Donaci südlich von Brindisi dauern. Am Samstagabend wollen wir uns dann einschiffen und nach Südalbanien übersetzen.
„Die Armut dort kannst du dir nicht vorstellen“
So bunt die Gruppe ist, so unterschiedlich sind die Beweggründe für die Hilfsaktion: Fran Pepaj kehrt mit dem Transport zum zweiten Male in seine alte Heimat zurück. Der 57jährige Unternehmer ist in Hani Hotit aufgewachsen. Mit 13 Jahren steckten ihn die kommunistischen Revolutionäre ins Lager, aus dem er ein paar Jahre später über Jugoslawien und Österreich nach Deutschland fliehen konnte. Jetzt will er seinen Landsleuten über die schwierige Phase des Umbruches helfen. Die Armut dort“, sagt er, „kannst du dir nicht vorstellen, das gibt’s eigentlich gar nicht mehr in Europa.“
Wie recht er damit hat, werden wir bald erfahren.
Gerd Schäffer, der praktische Arzt aus Großauheim, der das Ende des Zweiten Weltkrieges miterlebt hat, fährt mit zwiespältigen Gefühlen ins Land der Skipetaren. Der 62jährige erinnert sich an die Hilfe des Auslandes nach dem Niedergang des Dritten Reiches. „Jetzt sind die Rollen umgekehrt“, sagt er, „jetzt können wir materiell und ideell zeigen, daß Albanien vom Rest der Welt nicht vergessen ist.“ Ein paar Tage später werden diese Sätze eine aufgebrachte Menge in Hani Hotit zumindest zeitweise beruhigen.
Claudia Schäffer, Schweizer Staatsbürgerin in deutschen Landen, reist mit einem Gefühl der Hoffnung nach Albanien. Die Mitarbeit bei der Hilfsaktion ist für die 43jährige auch das Ergebnis eines bewußten Lösungsprozesses von der gelegentlichen Selbstzufriedenbeit ihrer Landsleute in der Schweiz. Die heile Welt der Schweiz, sagt sie, existiert außerhalb der Landesgrenzen nicht.
Die Menschen glücklich machen vor Ostern
Stella Pepaj, die Italienerin in der Gruppe, will einfach nur ein paar Leute „glücklich machen vor Ostern“. Sie freut sich vor allem über den großen Erfolg der Spendenaktion, die den Menschen in Hani Hotit zugutekommen soll.
Bernd Stolper, der 30jährige Elektromeister, kam im Alter von acht Jahren aus der ehemaligen DDR in den Westen. Dass er in der ersten Zeit auf Spenden des DRK zurückgreifen konnte, hat er nicht vergessen. Jetzt will auch er die Hilfe dort zurückgeben, wo sie am dringendsten gebraucht wird.
Am späten Freitagnachmittag kommen wir erschöpft von der langen Fahrt in San Donaci an. Verwandte und Freunde von Stella Pepaj sind unsere Gastgeber für eineinhalb Tage. Albanien ist den Menschen hier ein lebendiger Begriff. Vor etwa einem Jahr kamen 20.000 Flüchtlinge auf einem schrottreifen Frachter in Bari und Brindisi an.
Die Bilder, die dann nicht nur in Süditalien über die Schirme flimmerten, haben hier viele bewegt. Beinahe ebenso viele haben sich damals auf den Weg in die Häfen gemacht, um den albanischen Flüchtlingen zu helfen. Ein Teil jener, die über die Adria kamen, fanden bei den Familien kurzfristig Aufnahme. Die anderen wurden in graderen Gebäuden untergebracht und von den Familien in den Orten versorgt Im 8000 Einwohner großen San Donaci fanden 150 Albaner Unterkunft in einem Haus, das die Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt hatte. Für jeweils einen Tag war eine Familie in der Kommune für die Flüchtlinge zuständig. Doch die alltägliche Hilfe, die nicht nur in San Donaci gegeben wurde, war offenbar weniger telegen als die prügelnden italienischen Polizisten, die erschöpfte Albaner in die Stadien zurücktrieb.
Tags drauf verlassen wir unsere Gastgeber und fahren mit den beiden Wagen nach Brindisi. Bei der schwierigen und komplizierten Beschaffung der Tickets erleben wir die erste unangenehme Überraschung: Nach Auskunft des Reisebüros ist für den Tag der Rückreise kein Platz mehr für den Kleintransporter auf der Fähre. Wir müssen unsere Pläne ändern.
Nach dem Stand der Dinge werden Fran und Stella Pepaj in einer Woche von Durres aus nach Bari zurückkehren. Der Rest der Gruppe soll mit dem Auto nach Nordgriechenland-fahren und von Igumenitsa nach Brindisi übersetzen. Die Fährnisse einer solchen Reise sind uns an diesem Samstagabend noch nicht bewußt.
Am späten Abend fahren wir die beiden Wagen in den Bauch einer griechischen Fähre. Am anderen Morgen werden wir in Südalbanien an Land gehen.
Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 29. April 1992.